Spendenaktion · Tübingen

Jelle will leben!

Ärzte machen dem 28-Jährigen Musiker keine Hoffnung. Jetzt sucht er nach Alternativen zur Schulmedizin.

26.04.2019

Von Lisa Maria Sporrer

Es war fast wie früher, als Jelle van Ijsselmuiden am Wochenende auf die Bühne trat, sich an sein Schlagzeug setzte und ein virtuoses Solo hinlegte. Dann aber stand er auf, rückte den Beutel zurecht, der unter dem Shirt versteckt seine Magenflüssigkeit auffängt und huschte gebeugt, aber ziemlich stolz zurück ans Mischpult. Nicht nur wer Jelle mit seiner Band „Manhatten Lovestory“ früher im Sudhaus, oder mit seiner damaligen Band „Steenlagg“ auf dem Ract!festival oder zahlreichen anderen Auftritten erlebt hatte, sah, dass es nicht wie früher war. Jeder auf dem Konzert im Jugendhaus Mössingen wusste, wie schwerkrank Jelle ist.

Die Ärzte haben wenig Hoffnung für den 28-Jährigen. Bei ihm wurde ein siegelringzelliges Adeno Karzinom des Appendix diagnostiziert, eine seltene und bösartige Krebsform, die sich bei Jelle in Form von kleinen Tumoren auf dem Bauchfell und dem Dünndarm abgesetzt hat. Wäre er älter, wäre er bereits austherapiert, habe ein Arzt erst vergangenem Monat zu ihm gesagt. Aber einen Versuch könne man ja noch starten. Eine Chemotherapie, härter als die vorherige. „Das wäre eine Chemo gewesen, die die Nerven in meinen Händen zerstören würde.“ Die Vorstellung, nicht mehr spielen zu können, ertrug der Schlagzeuger nicht.

Es ist das einzige Konzert, dass Jelle (am Schlagzeug) mit seiner Band „Manhatten Lovestory“ nach seiner Erkrankung und unter Bauchschmerzen noch gespielt hat. Privatbilder

Es ist das einzige Konzert, dass Jelle (am Schlagzeug) mit seiner Band „Manhatten Lovestory“ nach seiner Erkrankung und unter Bauchschmerzen noch gespielt hat. Privatbilder

2014 war Jelle zurück nach Tübingen gekommen. Das Lehramtsstudium in Heidelberg sei nichts für ihn gewesen, sagt er. Drei Jahre später schloss er seine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker ab. 2017 schien ein gutes Jahr für Jelle zu sein: Er wurde von seiner Ausbildungsfirma übernommen und lernte seine Freundin kennen. Doch dann fingen die Bauchschmerzen an. Es sei ein stechender Schmerz an der Seite gewesen, sagt Jelle. Sein rechtes Bein ließ sich nicht mehr normal anheben. Er ging sofort zum Arzt. Man vermutete eine Muskelentzündung. Schmerzmittel wurden verschrieben. Jelle aber ahnte schon, dass es nicht so harmlos sein konnte.

Als die Schmerzen schlimmer wurden, wechselte er den Arzt. Mehrfach. Eine Ultraschalluntersuchung blieb ohne Befund. Er bestand auf einer Computertomografie, einem speziellen Röntgenverfahren, bei dem der Körper Schicht für Schicht durchleuchtet wird. „Es war seltsam danach“, erinnert sich Jelle. Ganz traurig sei der Arzt zu ihm gekommen. Die Diagnose: chronische Blinddarmentzündung. Jelle glaubt heute, dass der Arzt damals so traurig aussah, weil er bereits ahnte, dass es sich um Krebs handelt. Jelle aber nahm das Angebot dankbar an, mit der Blinddarm-Entfernung bis nach Weihnachten zu warten. Es schien ja nichts wirklich Lebensbedrohliches zu sein.

Als er aber nach der Operation aufwachte, war der Blinddarm noch drin. Bis zum Nachmittag erfuhr er nichts. Schließlich habe ein junger Arzt von „Raumforderung“ geredet. Jelle konnte sich darunter nichts vorstellen. Bis irgendwann das Wort „Tumor“ fiel. „Das hat mich völlig vom Tisch gefegt.“ Er wollte nicht wahrhaben, dass so etwas ihn traf. „Ich war traurig. Ich war geschockt. Man wird vom Leben einfach verschluckt.“

Jelle mit seiner Freundin Mona.  Privatbilder

Jelle mit seiner Freundin Mona. Privatbilder

Im Laufe des letzten Jahres hat sich Jelle sichtlich verändert. Auf den Fotos, die seine Freundin Mona auf dem Smartphone zeigt, sieht man ein glückliches Paar am Strand. Eine hübsche, lebenslustige Archäologiestudentin und ein bärtiger, jugendlich wirkender Mann. Damals, an Ostern nach seiner ersten Operation, wog er noch 82 Kilogramm. Heute sind es 46. „Ich war der Genießer-Typ. Ich habe super gerne gegessen und auch super gerne gekocht.“ Kauen fehlt ihm. Er habe sogar schon mal überlegt, das gekaute Essen einfach wieder auszuspucken, weil er es ja nicht schlucken darf. Aber schon die kleinsten unzerkauten Stückchen wären eine Gefahr für ihn. Seit einem Darmverschluss, nach dem große Teile des Dünn- und Dickdarms entfernt wurden, wird Jelle künstlich ernährt.

Manchmal, wenn Jelle spazieren geht oder durch die Stadt schlendert und alte Menschen oder auch Paare mit Kindern sieht, beneidet er sie, dass sie so alt werden durften, eine Familie gründen konnten. Oder er denkt: „Viele Leute vergeuden ihr Leben, indem sie sich den Arsch abarbeiten.“ Wenn er gesund wäre, würde er keine 7-Tage-Woche mehr machen. Aber diese Wahl hat er nicht. Jelle hat mit dem Reiten anfangen. Schon in der Reha hat er auf einem Pferd gesessen, ein tolles Gefühl, sagt er. Und er möchte noch einmal mit seiner Freundin reisen, ans Mittelmeer, sich den Apollon-Tempel in Delphi anschauen und am Fuße der Akropolis stehen.

Auch deshalb hat sein Bruder Sven für ihn eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Das Konzert in Mössingen, organisiert von seinen Bandkollegen, war ein Spendenkonzert. Noch immer ruft die Band „Manhatten Lovestory“ für Jelle via Facebook zu Spenden auf. Hauptsächlich sollen mit dem Geld alternative Heilmethoden finanziert werden, denn darauf setzt er seine letzte Hoffnung. Sein Leben will er nicht so einfach aufgeben, sagt er. „Ich bin von Sternzeichen Skorpion. Wir greifen gerne mal an.“ Jelle will den Krebs jetzt mit der Naturheilkunde angreifen. Mit chinesischer Heilmedizin. Sogar bei einem Heiler war er schon. Seine Eltern, Geschwister und seine Freundin unterstützen ihn dabei. Sprechen ihm Mut zu.

Nach der ersten Operation, kurz vor dem Jahresbeginn 2018, schien es so, als könnte Jelles Leben wieder normal werden. Der Tumor war entfernt worden, die Bauchhöhle mit einer erhitzten Chemotherapie-Lösung gespült. Der Arzt war zuversichtlich: Es sei alles weg, sagte er. Den Februar verbrachte Jelle in der Reha. Der Körper habe sich gut angefühlt, sagt er. Aber die Angst blieb. „Ich habe alles, was in meinem Körper vor sich ging, akribisch beobachtet. Der Geist heilt nach sowas eben nicht so schnell.“

Er suchte einen Homöopathen auf, ließ seine Krankheitsgeschichte analysieren, machte eine Vitamin-D-Kur, eine Misteltherapie. Die Nachsorgeuntersuchung im März 2018 ließ nichts Auffälliges erkennen. Alles schien wieder gut. Und dann kamen die Bauchschmerzen zurück. Die Ärzte sagten: Das käme von den Verwachsungen, Narben im Bauchraum, die erst heilen müssten. Jelle konnte nichts mehr essen, erbrach oft, bekam eine Darmverengung. Obwohl es schlimmer und schlimmer wurde, er teilweise an die fünf Liter auf einmal erbrach, wiegelten die Ärzte ab. Erst nach seinem Darmverschluss schnitten sie noch einmal seinen Bauch auf. Der Krebs hatte gestreut. Ziemlich schnell und ziemlich aggressiv.

Jelles Bruder Sven hat eine Spendenaktion ins Leben gerufen.  Privatbilder

Jelles Bruder Sven hat eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Privatbilder

Der Urlaub in Griechenland ist bereits gebucht. Für Mitte Mai. Gut eine Woche. Länger geht es nicht. Alle sieben bis zehn Tage muss die Nadel in seinem Port gewechselt werden. Die Schmerzpumpe wird seine Freundin Mona im Urlaub richten. Für die Infusionen wird sie dann auch zuständig sein. Üblicherweise kommt dafür jeden Morgen ein Mitarbeiter vom Tübinger Projekt zu Jelle nach Derendingen. Wenn er aus Griechenland zurück ist, will er mit Hyperthermie anfangen, einer gezielten Überwärmung des Körpers. Das künstliche Fieber soll die Tumorzellen schädigen. Er will diese Therapie zusammen mit einer Artemisinintherapie machen. Seit einigen Jahren wird geforscht, ob der Pflanzenstoff auch gegen Krebs helfen kann. In Tübingen hat man es abgelehnt, die Hyperthermie-Behandlung bei ihm anzuwenden: Seine Krebsart sei dafür nicht geeignet. Er will es nun in einer anderen Stadt probieren.

„Wenn die Krebszellen wirklich davon zurückgehen, dann würde ich das Leben feiern. Aber richtig hart“, und zuversichtlich fügt er hinzu: „Das Leben findet sich einen Weg.“ Und wenn nicht? Das Sterben an sich sei wohl eher leicht, nicht so schlimm, sagt Jelle. „Wäre da nicht diese Angst vor dem Leidensweg, die Angst, dass es scheißwehtun wird.“ Zu wissen, soviel zurückzulassen. So viele. „Ganz weg ist man danach aber nicht.“ Er glaubt an eine Art Bewusstseinswanderung in einem anderen menschlichen Körper. „Die Frage ist nur, in welcher Zeit man dann sein wird.“ In welcher Zeit möchte Jelle sein? „Ich würde gerne in dieser Zeit bleiben.“

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Erstellt:
26.04.2019, 02:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 56sec
zuletzt aktualisiert: 26.04.2019, 02:00 Uhr

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