Corona
„Indisch“ oder kompliziert?
Die Mutationen des Virus werden meist nach ihrem Entstehungsland benannt. Das gefällt vielen nicht, aber wer kann schon mit B.1.617 etwas anfangen?
Großbritannien fühlte sich fast am Ende der Pandemie angekommen, doch dann tauchte die „indische Variante“ auf. Die extrem ansteckende Corona-Mutante versetzt die Briten in Sorge: Kann Corona die Insel trotz ihrer weit vorangeschrittenen Impfkampagne doch noch einmal hart treffen? Während Journalisten sich über die Zahl der aus Indien ankommenden Direktflüge empören, befürchten einige Inder im Land noch ganz andere unangenehme Folgen.
„Als ich das erste Mal davon im Radio hörte, ist mein Herz in die Hose gerutscht“, schreibt die indischstämmige Autorin Pragya Agarwal in einem Gastbeitrag für das Portal „inews“. Rassismus gegenüber Menschen aus Indien sei nicht neu, „aber ich bin besorgt, dass es durch die ,indische Variante' schlimmer wird“.
Auch die Soziologin und Sprachforscherin Brigitte Nerlich von der Universität Nottingham hält es für problematisch, den Virus-Varianten Länder-Labels aufzukleben. „Diese länderspezifischen Namen eignen sich sehr gut für negatives Framing, das mit ausländer- und migrantenfeindlichen Einstellungen einhergeht.“
Bestes Beispiel dafür sei Ex-US-Präsident Donald Trump, sagt Nerlich, der Sars-CoV-2 wiederholt als „China-Virus“ bezeichnet hat. Die Sozialforscherin Elizabeth Stokoe von der Loughborough University sagt: „Seitdem ist vielfach belegt worden, dass diese Phrasen zu mehr Hasskriminalität während der Pandemie geführt haben.“
Sars-CoV-2 lässt sich problemlos als „Coronavirus“ bezeichnen, doch mit den Varianten wird es schon schwieriger. Statt von der „indischen“, der „südafrikanischen“ oder der „brasilianischen“ Variante lässt sich zwar auch von B.1.617, B.1.351 oder P.1 sprechen. Aber außerhalb der virologischen Wissenschaft dürfte dann kaum noch jemand folgen können.
Die Variante B.1.1.7, die in Deutschland vor allem als „britische Variante“ bekannt ist, nennt man in Großbritannien selbst meist „Kent Variant“. Statt also das gesamte Land mit der Variante zu identifizieren, schiebt man lieber den Bewohnern der Grenzregion Kent, in der die ersten Fälle entdeckt wurden, den unerwünschten Ruhm zu.
Die Schuld übertragen
Stokoe berichtet von einem kleinen Selbstversuch: „Wenn Sie heute in Großbritannien das Wort ,Indian' googeln, wird sofort ,Variant' als Vervollständigung angezeigt. Googelt man ,British' oder ,Kent', haben die Vervollständigungsvorschläge nichts mit Covid zu tun.“ Das zeige, wie stark die Bezeichnung der „indischen Variante“ mit der Nationalität assoziiert werde.
Indem man Phänomene mit einem Orts-Label versieht, distanziere man sich von ihnen, erklärt die Psychologin Nilu Ahmed von der Universität Bristol. „Das überträgt Schuld auf die anderen und erlaubt denen, die das Narrativ nutzen, sich als Opfer zu inszenieren.“ Auch könne es falsche Annahmen fördern: So sei die Spanische Grippe in den USA aufgekommen, aber erst in Spanien weitgehend dokumentiert worden.
Der britische Wissenschaftler Oliver Pybus befürchtet sogar, dass die Stigmatisierung durch länderspezifische Bezeichnungen die Bekämpfung der Pandemie behindern könnte: „Das Letzte, was wir wollen, ist, Länder davon abzuhalten, über neue, besorgniserregende Varianten zu informieren – im Gegenteil.“
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Debatte über die Namen von Varianten angestoßen, bislang jedoch ohne durchschlagenden Effekt. Der Psychologe Claus-Christian Carbon von der Uni Bamberg schlägt vor, konkret gegenzusteuern, „indem man Krankheiten nicht mit solchen Ortsbezeichnungen nennt“. Er plädiert für wissenschaftliche Namen und Nummern. Damit „sind keine Wertungen und keine ungewollten Assoziationen verknüpft“.