Fast einstürzende Neubauten

In Tübingen entsteht Kunst zwischen Illusion und Baustatik

21.12.2015

Von Angelika Bachmann

Diese Kunst am Bau machte Tübingen international berühmt: Vulva (mit eingeklemmtem Studenten) vor dem Mikrobiologischen Institut. Archivbild: Feuerwehr Tübingen

Diese Kunst am Bau machte Tübingen international berühmt: Vulva (mit eingeklemmtem Studenten) vor dem Mikrobiologischen Institut. Archivbild: Feuerwehr Tübingen

Der Landesrechnungshof hat diesen Sommer beklagt, mit der „Kunst am Bau“, bezahlt vom Land und damit vom Steuerzahler, werde liederlich umgegangen. Sie werde nicht wertgeschätzt, schlimmer noch: manchmal verschwinde sie einfach. Nun, zumindest das wird mit der „Kunst am Bau“ im künftigen Geo- und Umweltzentrum (GUZ) auf der Morgenstelle nicht passieren. Dieses Kunstwerk kann man nicht einfach entfernen.

Der Stuttgarter Künstler Martin Bruno Schmid will die fünf tragenden Säulen der Eingangshalle des Geo- und Umweltzentrums (geplante Eröffnung: 2018) mit einem senkrechten Sägeschnitt in zwei Hälften spalten und an zahlreichen Stellen durchbohren.

Die durchlöcherten Säulen sollen beim Betrachter ein permanent prekäres Gefühl erzeugen. Die machtvolle Demonstration großräumiger Beton-Architektur konterkarieren: Ob das wirklich alles hält? Die Jury der Landesbehörde war angetan: Schmid greife erheblich in die Statik des Gebäudes ein und lote die Grenzen der Belastbarkeit aus.

Martin Bruno Schmid ist Meister darin, angeblich alternativlos Solides zu durchschneiden und zu durchlöchern. An einem Uni-Gebäude in Villingen-Schwenningen ließ er aus einer tragenden Betonwand eine kreisrunde Scheibe herausfräsen und diese leicht um den Mittelpunkt rotieren. Als hätte ein Riesen-Kind im Vorbeigehen mal kurz die Uhr verstellt. Selten hat man Beton so verspielt gesehen.

In Ahlen hat der Künstler 2005 eine störende Trennwand in einem Ausstellungsraum kurzerhand niederreißen lassen und das Ganze als „Demolition d’un mur“ zum Kunstwerk erklärt. Man sieht, der Mann hat einen Hang zu ungewöhnlichen Inszenierungen.

Auf der Tübinger Morgenstelle will Schmid nun die 7,5 Meter hohen Säulen, deren Fundamente dieser Tage gelegt wurden, in ganzer Länge durchtrennen. „An diesen fünf schmalen Säulen hängt ein Großteil der Deckenlast“, sagt Schmid. Er wolle mit seiner Kunst ans Limit gehen: „In Zusammenarbeit mit Architekten, Handwerkern und Statikern werden die Schnitte und die Löcher so berechnet, verteilt und gesetzt, dass jede einzelne Stütze zwar sicher und dauerhaft ihren Dienst erfüllt, dabei aber spürbar nahe an das Limit ihrer Tragfähigkeit gebracht werden soll“, so wird Schmid in einer Pressemitteilung zitiert. „Der Extrem- und Idealfall wäre dieser: ein Loch zu viel, ein Schnitt zu breit, und der gesamte Organismus der Architektur fällt in sich zusammen. Stürzt ein. Dieses Extrem gilt es zu spüren. Und zu vermeiden.“ Gegenüber dem TAGBLATT hat Schmid noch einmal versichert: „Es ist alles echt. Kein Fake.“

Nun mag ein gewisser dramatischer Gestus zur Kunst dazuzugehören. Schmid tut genau das, was gute Illusionisten tun: Er lenkt den Blick des Betrachters auf das, was er sehen soll. Währenddessen wird im Hintergrund ganz solide handwerklich gearbeitet.

Wollen wir zumindest hoffen. Denn schon einmal hat es Tübingen mit „Kunst am Bau“ in die überregionalen Schlagzeilen gebracht: Die steinerne Vulva vor dem mikrobiologischen Institut des peruanischen Künstlers Fernando de la Jara ist mittlerweile weltbekannt, weil es bei Gast-Studenten zu einem Ritual geworden ist, durch sie hindurch zu klettern. Als sich ein US-Student vor zwei Jahren in der Vulva verkeilte, berichteten die Medien von Peking bis Los Angeles über den kuriosen Fall. Muss man sich jetzt wappnen, dass man demnächst in London darauf angesprochen wird, ob man tatsächlich aus der Stadt kommt, in der Künstler neue Uni-Gebäude noch vor der Eröffnung zum Einstürzen bringen, indem sie die tragenden Säulen zersägen?

Es gehöre zum Kunstwerk dazu, dass er „einen Teil des Werks in die Hände von Fachleuten abgibt“, so Schmid – in diesem Fall in die Hände der Statiker des Münchner Architekturbüros Kaan, das den GUZ-Neubau plant. Schließlich liege Tübingen ja in einem Erdbeben-Risiko-Gebiet. Das müsse man auch beachten, so Schmid.

Bevor in den nächsten Monaten die Säulen errichtet werden, müssen die Statiker nun die Maße und Beschaffenheit neu berechnen, so dass die halbierten Säulen für sich alleine stehen können. Auch wie der Stahlkern beschaffen sein muss, dass die Eingangshalle nicht kollabiert, wird neu berechnet.

An dieser Stelle können wir also alle beruhigen, die künftig in dem Bau ein- und ausgehen, Die Säulen werden zwar ganz real zersägt, mit einer Seilsäge wie sie in klassischer Steinbruchtechnik zum Einsatz kommt. Das Spiel mit dem Risiko ist aber pure Illusion – und eben doch ein bisschen Fake. Schließlich kann sich auch ein Künstler nicht einfach über das Baugesetzbuch und die Bauverordnungen hinwegsetzen.

Kunst am Bau: Gespaltene Säulen im Foyer des Tübinger Geo- und Umweltzentrums auf der Morgenstelle. Entwurf: Martin Bruno Schmid

Kunst am Bau: Gespaltene Säulen im Foyer des Tübinger Geo- und Umweltzentrums auf der Morgenstelle. Entwurf: Martin Bruno Schmid

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Erstellt:
21.12.2015, 21:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 21.12.2015, 21:00 Uhr

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