Musik

Immer an den Tasten

Er ist ein Weltklasse-Pianist, ein Klassik-Influencer und kämpft nicht nur auf Twitter gegen Rassismus: Igor Levit und sein Buch „Hauskonzert“.

16.04.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Er spielt Beethoven in der Elbphilharmonie, auf Einladung etwa von Greenpeace ist Igor Levit aber auch gerne dabei, um für eine bessere Welt zu demonstrieren: mit Klaviermusik gegen die Rodungen im Dannenröder Forst. Foto: Boris Roessler/dpa

Er spielt Beethoven in der Elbphilharmonie, auf Einladung etwa von Greenpeace ist Igor Levit aber auch gerne dabei, um für eine bessere Welt zu demonstrieren: mit Klaviermusik gegen die Rodungen im Dannenröder Forst. Foto: Boris Roessler/dpa

Ulm. Kürzlich griff er in Jan Böhmermanns „ZDF Magazin Royal“ in die Tasten und begleitete den Rapper Danger Dan im Anti-Rechts-Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“. Auf Twitter schickt Igor Levit seinen 132?000 Followern auch nicht nur Gute-Nacht-Grüße mit einem Pralinen-Foto oder teilt ihnen mit, dass die Süßkartoffel „der beste Stoff nach Rosenkohl und Brahms“ sei. Wenn der SPD-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen Landtag, Thomas Kutschaty, im WDR-„Westpol“ sagt, dass er jetzt eine Ausgangssperre für sinnvoll erachte, weil man damit Menschen auf dem Weg in private Wohnungen „erwischen“ könne, schreibt der Pianist empört: „Hören sich manche Menschen eigentlich noch selbst reden?“

Das macht nicht jeder Klassik-Star. Und der 34-jährige Levit gehört zu den weltberühmten. Das darf man spätestens sagen, seit er seine Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten (Sony) herausbrachte; auch in Konzert-Zyklen in der Hamburger Elbphilharmonie oder bei den Salzburger Festspielen spielte er die Werke spektakulär. Als den „Pianisten des Widerstands“ feierte ihn aber zudem die „New York Times“ – weil der 1987 im russischen Gorki (Nischni Nowgorod) geborene und 1995 mit der Familie nach Hannover (auf dem Ticket „jüdische Kontigentflüchtlinge“) ausgewanderte Levit seine Stimme erhebt gegen Rassismus – und Antisemitismus, der ihm persönlich immer wieder entgegenschlägt.

Bundespräsident Steinmeier verlieh Levit das Bundesverdienstkreuz für seine spontanen „Hauskonzerte“ via Twitter, für eine musikalische Seelsorge in der ersten Corona-Welle, aber auch für seinen Einsatz gegen alle Formen des Menschenhasses. Was zum Beispiel dann Alice Weidel von der AfD, in einem offenen Brief, als einen „Schlag ins Gesicht all jener Ordensträger“ bezeichnete, „die sich tatsächlich um unser Land“ verdient gemacht hätten.

Wer ist dieser Igor Levit? Man kommt ihm jetzt ziemlich nahe in seinem in dieser Woche erschienenen Buch: „Hauskonzert“ heißt es. Aber es ist keine Autobiografie mit Ghostwriter-Hilfe, auch wenn Levits Name auf dem Cover prangt und der von Florian Zinnecker kleiner darunter. Der Journalist hat aber, zum Glück, auch nicht nur die – sehr frühe – Biografie eines 34-jährigen Künstlers geschrieben, der erst 2011 sein Konzertexamen an der Hochschule in Hannover abschloss. Es ist eher eine Begegnung, eine Reportage, ein Gespräch mit Levit – in einer offenen, anschaulichen, süffig zu lesenden Form.

Es ist mehr als nur ein Pianisten-Porträt, das viel und spannend auch vom Klassikmarkt, von Musikritiker, Konzertagenten, CD-Produzenten, vom ganzen Business erzählt. Und von einem extrem hochbegabten Musiker, der sich schon mit drei Jahren ans Klavier setzte und eine atemraubende Technik entwickelte, der aber von permanenten Selbstzweifeln getrieben ist. „Ich habe das Gefühl, dass er nie zufrieden wird, und das ist sein Glück“, sagt jedoch seine Mutter.

Aufschlussreich nicht zuletzt, wie Levit von seinen vielen Lehrern berichtet, von der Suche nach dem eigenen künstlerischen Ich, von den Tiefschlägen. Wie er etwa einmal, mit 17, dem großen Grigori Sokolow in Amsterdam vorspielte und der ihn derart zerlegte, „dass kein Grashalm mehr wuchs“. Sokolow habe ihm vorgeschlagen, ein anderes Instrument zu lernen: „Wie wäre es mit Flöte?“

Dann ist das aber auch – und das war naturgemäß nicht geplant, als Zinnecker im Dezember 2019 den allseits gefeierten Levin in Berlin auf ein mögliches Buchprojekt ansprach – die beispielhafte Geschichte eines Künstlers in der Corona-Krise, der darunter leidet, allein zu sein. Ein hyperaktiver Pianist, der sich anschickt, sein Solo-Debüt in der New Yorker Carnegie Hall zu geben: über Nacht komplett ausgebremst. Ob er den „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth gelesen habe, fragt Levit seinen Freund Zinnecker – und zitiert: „Er sah eine Welt untergehen, und es war seine Welt.“

Levit aber spielt „Hauskonzerte“. Er kauft sich ein Stativ und eine Handy-Klammer, setzt sich in Socken an den Flügel und spielt die Waldsteinsonate – 80 000 hören den Livestream über Twitter. Im Mai 2020 nimmt sich Levit die „Vexations“ von Eric Satie vor – ein Thema und zwei Variationen, die 840 mal wiederholt werden. Fast 15 Stunden dauert das, die Nacht durch. „Das wird mein künstlerischer Hungerstreik“, sagt Levit. „Er will die Leere hörbar machen. Als Schmerzensschrei der Kunst, das ist die Idee.“

Ziemlich viel Pathos

Und die politischen Statements? Dass diese so auffallen, zeige nur, „dass es so viele andere eben nicht machen“, schreibt Florian Zinnecker: „Er ist genauso gut, wie wir alle es sein können.“ Geht's nicht auch mal ein bisschen kleiner?, seufzt man als Leser. Nein, auch das Pathos gehört bei Igor Levit dazu.

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Erstellt:
16.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 19sec
zuletzt aktualisiert: 16.04.2021, 06:00 Uhr

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