Sicherheitsbefragung: Ärger über den eigenen Mann

Im grünen Lager lösen die Alleingänge von Tübingens OB nicht gerade Freude aus

Im grünen Lager lösen die Alleingänge von Tübingens Oberbürgermeister nicht gerade Freude aus. Seine jüngste Bürgerbefragung brachte ihm Leserbriefe und Kritik von denen ein, die eigentlich an seiner Seite stehen.

12.04.2018

Von Ulla Steuernagel

Evelyn Ellwart-Mitsanas, Harald Kersten, Christoph Joachim. Archivbilder: Metz, privat

Evelyn Ellwart-Mitsanas, Harald Kersten, Christoph Joachim. Archivbilder: Metz, privat

Sabine Schlager, einst Landtagsabgeordnete der Grünen, schrieb am 23. März in ihrem Leserbrief: „Die Selbstbeweihräucherung des OB (...) nimmt mittlerweile groteske Züge an.“ Sie bezog sich damit auf die Sicherheitsumfrage, die Boris Palmer angeschoben hatte. Auch der Kreisvorstand der Grünen kritisierte Anfang des Jahres den OB, dass er „mittels rechtspopulistisch angehauchte(r) Thesen in einem bestimmten Milieu auf Zuspruch“ ziele.

Und Ende März stand ein Leserbrief mit einer auffallend starken Distanzierung im TAGBLATT: „Ich schäme mich für diesen Oberbürgermeister!“ Unterschrieben war er von Evelyn Ellwart, Mitglied des Vorstands der Alternativen und Grünen Liste Tübingens. Selten erreichen so deutliche Angriffe aus den eigenen politischen Reihen die Öffentlichkeit wie im Fall Palmer. Der Text von Ellwarts Leserbrief gibt aber auch Rätsel auf: Wofür genau schämt sich die Schreiberin? Wir fragten sie und forschten bei anderen Grünen nach: Wie halten Sie’s mit dem OB?

Nicht jeder will sich dazu öffentlich äußern. Daniel Lede-Abal? Fehlanzeige. Im Büro des Landtagsabgeordneten gibt es die Auskunft, die es auf diese Nachfrage routinemäßig gibt: kein Kommentar zu Palmer.

Klare Opposition zum Oberbürgermeister

Evelyn Ellwart ist zwar ebenfalls Grünen-Parteimitglied, sie würde sich aber keiner Parteiräson unterwerfen. Palmers Umfrage zum Sicherheitsgefühl der Tübinger hatte sie dermaßen erbost, dass sie ans TAGBLATT schrieb. Der Oberbürgermeister hatte zusammen mit dem städtischen Amt für Statistik einen Fragebogen zum Sicherheitsgefühl entwickelt und an rund 1000 Bürger/innen verschickt. Nach dieser Aktion drängte es Ellwart danach, sich von Palmer zu distanzieren.

Ellwart war auch schon in anderen Fragen anderer Ansicht als der OB. Sie war Gründerin der Bürgerinitiative Au-Brunnen und bildete auch hier eine klare Opposition zu ihm. Palmer hatte sich auf der Suche nach einem Ort für neues Gewerbe für das Au-Brunnen-Gebiet ausgesprochen. Nach Bürgerbefragung und Votum des Gemeinderates war er damit gescheitert.

Warum regt sich Ellwart so sehr über die Sicherheitsbefragung auf, die Palmer zum Beleg eines gestiegenen Unsicherheitsgefühl in der Stadt nimmt? Es sei der Tropfen, der für sie das Fass zum Überlaufen gebracht habe, erklärt die ehemalige Stadträtin der AL/Grünen Fraktion. Denn Palmer habe seine Fragen „manipulativ“ gestellt und genau das herausbekommen, was er herausbekommen wollte.

Palmer prägt die Außenansicht der Stadt

Für Ellwart ist Tübingen ein sicheres Pflaster. Sie sieht auch in ihrem Umfeld „überhaupt kein Problem“. Sie betont, dass ihre 14-jährige, „blonde Tochter“ in Tübingen genauso wenig Angst habe. Ellwart geht es zunehmend auf die Nerven, dass Palmer immer mehr die Außenansicht der Stadt prägt. Wo man auch sei und sich als Tübinger vorstelle, werde reflexhaft der Name Palmer genannt. Und je rechter die Kreise, desto höher das Lob: „Ich will nicht, dass Tübingen so in der Öffentlichkeit dasteht“, sagt Ellwart.

Harald Kersten, ebenfalls Vorstandsmitglied der Alternativen und Grünen Liste, schließt sich Ellwarts Kritik an. Auch er hat mittlerweile einen Leserbrief zur Sicherheitsfrage geschrieben, nicht so emotional wie seine Vorstandskollegin, aber ebenfalls genervt von Palmers Argumentation. Sicher, so ergänzt er im Gespräch, werden häufiger sexuelle Übergriffe in der Zeitung gemeldet. Aber Palmer interpretiere dies sehr einseitig. Für den OB hängt der Anstieg an Belästigungen mit einer höheren Zahl junger männlicher Asylbewerber zusammen. Dabei müsse man sich, so Kersten, doch genauso fragen: „Gibt es tatsächlich mehr Belästigungen oder werden sie häufiger angezeigt?“

Über Hintergründe nachdenken

Erst seit dem vergangenen Jahr ist mit der Strafrechtsreform und dem Paragrafen 184i die sexuelle Belästigung zur Straftat geworden. Damit wachse auch die Sensibilisierung für das Thema und die Bereitschaft, solche Verstöße anzuzeigen. Auch über diesen Hintergrund ließe sich nachdenken und über die paradoxe Wirkung, dass sich so das Unsicherheitsgefühl verstärkt. Seine Befragung halte wissenschaftlichen Standards nicht stand, so war dem OB vorgeworfen worden. Palmer werte das mit dem Hinweis ab, die Wissenschaft wolle immer 100-Prozent-Aussagen. „Quatsch“, sagt der Literaturwissenschaftler Kersten dazu. Der Glaube an solche Gewissheiten sei längst widerlegt.

In seinem Buch „Wir können nicht allen helfen“ argumentiere Palmer differenzierter. In mündlichen und in Facebook-Kommentaren bediene er sich dagegen einer populistischen Argumentation. Wer an so exponierter Position stehe wie der Tübinger OB, der müsse seine Worte mit Bedacht wählen und dürfe keine Stimmungsmache betreiben, betont Ellwart und glaubt fest, dass es auch anders geht: „Wir sind intelligente Menschen, wir brauchen keine einfachen Lösungen!“

Wirklich beschämt

Für Kersten bedient sich Palmer auch eines rhetorischen Kniffs, indem er sich zum Sprachrohr der Schwachen erkläre, „aber in Wirklichkeit ist er das Sprachrohr des Mainstreams!“

Warum nur, so fragt sich Ellwart, macht Palmer eine Menschengruppe schlecht, die eigentlich schutzbedürftig ist? Von jemandem, mit dem sie in vielen Punkten „Seit’ an Seit’“ stehe, habe sie das nicht erwartet: „Ich bin wirklich beschämt!“

Dass er Kritiker als ahnungslose Gesinnungsethiker kritisiert, die sich den „unbequemen Wahrheiten“ des Politprofis nicht stellen wollen, erbost sie obendrein. Die Familientherapeutin weist auf einen Widerspruch hin: „Er schlachtet gerne heilige Kühe, aber macht sich dann selber zur heiligen Kuh!“ Palmers Debattierlust schätzt sie durchaus, aber die Kehrseite nicht: „Er führt viele Scheindebatten und ist nicht bereit, seine Position zu ändern.“

Für Ellwart taucht manchmal schon die Frage auf: „Gehört er eigentlich noch zu uns? Was verbindet uns noch außer dem Ökologischen?“ In diesem Punkt widerspricht ihr Kersten. Palmer habe sich auch von einigen ökologischen Grundsätzen entfernt: „Er ist wirtschaftsfreundlicher geworden.“ Als Beleg dafür nennt Kersten die Ansiedlung von Amazon.

Prämie für die Steigerung des Unterhaltungswerts

Ein Parteiausschluss käme für Kersten nicht infrage. Er ist ein energischer Verfechter von Streitkultur und weiß, dass auch er selber mit seiner Meinungsstärke manchmal aneckt. „Wir hatten oft schon mehr Streit untereinander als mit den anderen Parteien!“ In einer Weise zieht er aber auch den Hut vor dem OB: „Er hat eine Prämie für die Steigerung des Unterhaltungswerts verdient.“

Dass Palmer besser in die AfD als zu den Grünen passe, dieser Ansicht sind weder Ellwart noch Kersten. Und wenn es jetzt OB-Wahlen gäbe, sind sie sich sicher, dass Palmer, wiedergewählt würde. Wenn auch mit vielen anderen Stimmen.

Was sagt der Vorsitzende der „Regierungsfraktion“, der grüne Stadtrat Christoph Joachim, zu seinem Stadtoberhaupt? Er könne nicht für seine Fraktion sprechen, aber als einzelnes Ratsmitglied und gelernter Soziologe. Im Studium habe er sich auch mit Statistik befasst: „Die Sicherheitsumfrage ist nicht so valide, wie ich es mir gewünscht hätte.“ Und wie kritisch sieht er Palmers Alleingänge? Darauf lacht er nur. „Diesbezüglich ist Palmer völlig beratungsresistent.“ Aber er findet auch: „Wir brauchen so ein Enfant terrible.“ Als solches sei Palmer schon in der richtigen Partei und in der richtigen Stadt, die ja sonst nicht so viele Probleme habe und nur so vor Erfolgen strotze.

Sicher oder unsicher

Boris Palmer zog aus seiner Sicherheitsumfrage den Schluss, dass „80 Prozent der repräsentativ Befragten“ geantwortet hätten, die Sicherheitslage habe sich „entscheidend verschlechtert“.

Gleichzeitig ergab die Umfrage aber auch, dass knapp die Hälfte der befragten Frauen und deutlich mehr als die Hälfte der Männer sich in der Stadt auch bei Dunkelheit sicher fühlten.

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Erstellt:
12.04.2018, 22:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 37sec
zuletzt aktualisiert: 12.04.2018, 22:00 Uhr

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