Über eine Jahreszeit, die fast jeder mag

Im Winter darf man auch mal faul sein

Drückende Hitze im Bus. Nicht nur da. Von den fettig-feuchten Haarspitzen des Mannes, der neben mir steht, tropft die Brühe auf seine Schultern und versickert im Hemd. Kann man an der Kopfhaut überhaupt schwitzen?

25.11.2017

Von Lorenzo Zimmer

Muss ja, bei mir läuft es auch kräftig das Haupt hinunter. Der Mann hält sich mit der Hand an einem Griff fest, lüftet dabei die Achsel und versprüht männlichen Moschus-Duft im Bus.

Wenn an mir nicht auch Niagara-Fälle hinabströmen würden, wäre ich versucht, dem Geruch zu entfliehen. Und der Gefahr, von herunterfallenden Schweißperlen getroffen zu werden. Aber wie einer Schlange bei Kälte geht es mir bei Hitze. Ich werde langsam, träge. Bloß nicht zuviel bewegen, sonst wird alles noch schlimmer. Im Bus lässt sich das Fenster nicht kippen. Ist das die Antwort der Stadtwerke auf zu wenige Saunaflächen?

Ich weiß: Die meisten Menschen verbinden mit dem Sommer laue Abende bei gut gekühltem Weißherbst auf dem heimischen Balkon. Oder lebhafte Familientage im Freibad mit Pommes Schranke und Wassereis. Vielleicht einem kalten Radler. Ich denke an stickige Busse, muffige Bettwäsche und schlaflose Nächte des endlosen Herumwälzens. Mir kann der Sommer getrost gestohlen bleiben.

„Das dürften jetzt wirklich die letzten Sonnenstrahlen sein. Schade! “, sagte eine ältere Dame gestern beim Kaffeetrinken an der Neckarbrücke zu mir, während sie ihren Latte Macchiato schlürfte und dem Licht entgegen blinzelte. Ich hoffe sie hat recht. „Ja ja, schade“, erwiderte ich kurz. Als Sommermuffel ist man der Außenseiter. Deswegen oute ich mich gar nicht mehr. Aber jetzt muss es mal raus.

Ich bin ein Wintermensch. Nicht nur weil Lebkuchen ganz vorzüglich ist – Glühwein sowieso. Weil es keine Wespen gibt oder weil alle, vor allem ich, weniger schwitzen. Ich mag auch die Stimmung. Da geht es gar nicht um Tannenbäume oder Nikolausmützen, es ist das Gesamtpaket. Man hat nicht ständig das Gefühl, raus zu müssen. „Draußen ist es viel zu kalt, komm wir bleiben auf der Couch.“ So oder so ähnlich lautet einer meiner Lieblingssätze. Im Winter darf man faul sein. Keine verpasste Gelegenheit für eine Radtour auf die Wurmlinger Kapelle. Niemand erwartet von einem, dass man über die Maßen aktiv ist. Dass man seine Abende bei Schnee und Kälte vor dem heimischen Kamin verbringt – egal wie metaphorisch dieser ist: Dafür hat jeder Verständnis.

Und gerade zu Tübingen passt der Winter ganz vorzüglich. Wenn die Altstadt in die Dämmerung getaucht aus jedem Fenster beleuchtet wird und Familien dahinter Adventskränze oder Schneeflocken-Fensterbilder basteln. Wenn Pendler und Autofahrer über Schnee und Eis motzen, springe ich ins weiße Glück und mache einen Schnee-Engel. Empfinde kindliche Freude bei jedem geworfenen Schneeball, jedem getroffenen Straßenschild. „Markt und Straßen steh’n verlassen, still erleuchtet jedes Haus, sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so festlich aus.“ Schrieb Joseph von Eichendorff vor 200 Jahren zu Weihnachten. Für mich beschrieb er den ganzen Winter: So wie ich ihn mag.

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Erstellt:
25.11.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 26sec
zuletzt aktualisiert: 25.11.2017, 01:00 Uhr

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