Corona

„Ich will das nie wieder erleben müssen“

Intensivpfleger Dennis Müller erlebt die Pandemie hautnah. Trotz hoher Belastung kümmern sich er und seine Kollegen Tag für Tag um schwer kranke Patienten – und werden teils mit Erfolgserlebnissen belohnt. Ein Besuch am Klinikum Stuttgart.

19.12.2020

Von DAVID NAU

Gutes Ende einer wochenlangen Behandlung: Der Rettungdienst holte eine Covid-Patientin ab, die in Reha kann. Foto: Ferdinando Iannone

Gutes Ende einer wochenlangen Behandlung: Der Rettungdienst holte eine Covid-Patientin ab, die in Reha kann. Foto: Ferdinando Iannone

Stuttgart. Bauch und Brustkorb der alten Frau heben sich im immer gleichen Takt. Es scheint, als atme sie in engen Abständen kurz und tief ein – fast so, als ob sie sich erschrickt. Doch das geht nicht mehr, die 83-Jährige liegt in einem künstlichen Koma, die Luft zum Atmen wird ihr von einem Beatmungsgerät in die Lunge gepresst. Mit dutzenden Schläuchen und Kabeln ist die alte Frau mit weiteren großen Maschinen verbunden. Auf einem Monitor kontrolliert der Intensivpfleger Dennis Müller die grünen, gelben und roten Linien, die Werte für Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Atmung und Blutdruck anzeigen.

Seit Freitag liege die Patientin nun so da, sagt Müller. Es ist ernst, die maschinelle Beatmung versuchen die Pfleger und Ärzte auf der Corona-Intensivstation am Klinikum Stuttgart so lange wie möglich hinauszuzögern.

„Anfangs hat sie es tapfer versucht, dann war sie aber so erschöpft, dass es nicht mehr anders ging“, sagt der 32-Jährige, der eigentlich anders heißt. Weil Kollegen nach Presseberichten von Corona-Leugnern Drohbriefe bekamen und beleidigt wurden, will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen.

Vor dem Ausnahmezustand wegen Corona war die Station im Krankenhaus in Bad Cannstatt eine interdisziplinäre Intensivstation. Inzwischen ist die Abteilung im ersten Stock ein Hochsicherheitsbereich. Hinein kommt man nur mit Schutzmantel, FFP3-Maske, Haarnetz und Schutzbrille, persönliche Gegenstände müssen komplett draußen bleiben. Nicht einmal ein Blatt Papier darf hinein – und vor allem nicht wieder hinaus. Denn dort liegen ausschließlich Patienten, die mit dem Coronavirus infiziert sind. Müller und seine Kollegen müssen die ganze 8-Stunden-Schicht über mit der unangenehmen Schutzausrüstung arbeiten.

Genug Technik, zu wenige Pfleger

Falls Selbstatmen nicht mehr geht: Eine Maske hängt an einem Intensivbett im Aufwachraum. Foto: Ferdinando Iannone

Falls Selbstatmen nicht mehr geht: Eine Maske hängt an einem Intensivbett im Aufwachraum. Foto: Ferdinando Iannone

Bis zu 18 Patienten können hier behandelt werden – und genau 18 Patienten brauchen an diesem Morgen eine Intensivbehandlung. Die Lage ist also ernst. Ein angrenzender Aufwachraum ist deshalb zur Erweiterung der Intensivstation umfunktioniert worden. Dort liegen Patienten eigentlich nach einer Operation für einige Stunden zur Überwachung, jetzt gibt es hier nochmal für acht Corona-Patienten Betten. Im schlimmsten Fall könnte man außerdem Patienten im angrenzenden OP-Bereich unterbringen.

Beatmungsgeräte und Betten gibt es im Klinikum genügend – theoretisch bis zu 200 Stück, sagt der medizinische Vorstand, Professor Dr. Jan Steffen Jürgensen. „Ganz klar limitierend, viel eher als die Beatmungsgeräte, sind aber qualifizierte Fachkräfte.“ Die waren schon vor Corona knapp und fallen nicht vom Himmel.

Im Idealfall sollte eine Pflegekraft nicht mehr als zwei Patienten versorgen. Aktuell versuchen Müller und sein Team, mindestens zu siebt zu sein – bei mehr als 20 Patienten bedeutet das drei Patienten pro Pfleger.

Über das Wochenende sind ein paar Betten frei geworden, einige Patienten haben den Kampf gegen das tückische Virus verloren. Trotzdem bleibt der Aufwachraum als Reserve offen. Klinik-Chef Jürgensen rechnet mit einer weiteren Zuspitzung der Lage: „Selbst bei einem erfolgreichen Lockdown bis Ende Dezember ist mit weiter steigenden Belegungen zu rechnen.“

Intensivpfleger Dennis Müller (rechts) versorgt mit einer Kollegin eine 83-jährige Covid-Patientin, die maschinell beatmet werden muss. Foto: Ferdinando Iannone

Intensivpfleger Dennis Müller (rechts) versorgt mit einer Kollegin eine 83-jährige Covid-Patientin, die maschinell beatmet werden muss. Foto: Ferdinando Iannone

Das Problem: Die hohen Fallzahlen der vergangenen Wochen sind noch gar nicht auf der Intensivstation angekommen. Bis die Infektion bemerkt wird und schwere Fälle auf die Intensivstation kommen, vergehen rund zwei Wochen. Deswegen rechnet auch Müller mit mehr Patienten. „Die Lage ist jetzt schon sehr belastend für alle: für die Patienten, die Angehörigen und uns Pflegekräfte.“

Viel Zeit für schwere Gedanken bleibt ihm aber nicht. Sein Telefon klingelt mal wieder. „Müller, Intensivstation“, sagt er und hört einer Kollegin zu. „Ich komme“, sagt er und eilt vom Aufwachraum zurück auf die Intensivstation. Dort braucht die Kollegin Hilfe am Bett der alten Frau.

Die ist an ein Dialysegerät angeschlossen, das ihr Blut reinigt, weil die Niere nicht mehr richtig funktioniert. Jetzt muss es abgebaut werden, die Behandlung ist für den Tag erledigt.

Für die Pflegerinnen und Pfleger ist das Alltag. Mit Corona wird ihre Arbeit aber noch komplizierter, weil bei vielen Patienten die Schädigung der Lunge hinzukommt. „Eine Beatmung ist aufwendig und bringt viele weitere Aufgaben mit sich“, erklärt Müller.

Fünf Menschen sind notwendig, um einen neuen Patienten von der Trage des Rettungsdienstes ins Intensivbett umzulagern. Foto: Ferdinando Iannone

Fünf Menschen sind notwendig, um einen neuen Patienten von der Trage des Rettungsdienstes ins Intensivbett umzulagern. Foto: Ferdinando Iannone

Wie beim Patienten im Nachbarzimmer. Seine Lunge wird trotz der Beatmung sehr schlecht belüftet. Um seinen Körper trotzdem ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, liegt er auf dem Bauch. Ob das helfen wird, kann Müller nicht vorhersagen. „Das ist sehr individuell. Mal klappt es, mal nicht.“

Und es ist sehr aufwändig; mindestens fünf Menschen sind notwendig, um den Patienten zu drehen. Ein Arzt, der am Kopf die Kommandos gibt und auf die vielen Schläuche und Kabel achtet, sowie zwei Pflegekräfte pro Seite. Ist der Patient noch übergewichtig, wird das schnell sehr anstrengend.

Die Arbeit ist aber nicht nur körperlich belastend, sondern auch seelisch. Es ist völlig unklar, wie die Sache für die alte Frau und den Mann auf dem Bauch ausgeht. Anfang des Jahres starb weltweit jeder zweite Intensivpatient mit Covid, aktuell überlebt in Deutschland jeder dritte Patient auf den Intensivstationen das Virus nicht. Es kommt vor, dass Müller und sein Team nichts mehr tun können.

Für die Intensivpfleger ist es Alltag, dass ein Patient stirbt. „Man kann nicht jeden retten“, sagt Müller, der seit 10 Jahren als Pfleger arbeitet. „In dem Ausmaß habe ich das aber noch nicht erlebt – und ich will das auch nie wieder erleben müssen“, sagt er. Normalerweise hilft ihm der Sport als Ausgleich zum stressigen Job sehr. Das Kicken auf dem Fußballplatz ist aber schon länger nicht mehr möglich. Und so ist er eigentlich nur beim Arbeiten und zuhause.

Die Pflegekräfte auf der Corona-Station zumindest etwas zu entlasten, ist die Aufgabe von Michael Kloss. Seit dem Frühjahr hilft er als ehrenamtlicher Angehörigen- und Patientenbetreuer mit. Er nimmt dem Team um Müller die schwierige und zeitaufwendige Aufgabe ab, Kontakt zu den Angehörige der Patienten zu halten, die ihre Liebsten nicht besuchen dürfen.

Täglich telefoniert er mit ihnen, berichtet von Fortschritten und überbringt die schwere Nachricht, wenn es dem Ende zugeht. Für diesen Fall hat das Klinikum eine Ausnahmeregelung vom strengen Besuchsverbot: Zwei Angehörige dürfen sich auf der Station von einem Sterbenden verabschieden.

Gutes Ende nach vielen Wochen

Bei aller Belastung gibt es aber immer wieder schöne Momente. Auch an diesem Morgen. „Wir brauchen Hilfe beim Umlagern“, ruft eine Kollegin über den Flur und Müller eilt in ein Patientenzimmer. Dort holt der Rettungsdienst eine Patientin ab. Ihr geht es wieder so gut, dass sie in die Reha kann.

Nach einem solchen Ende sah es nicht immer aus: „Wir hatten große Sorge, der Zustand der Patientin wurde von Tag zu Tag schlechter“, sagt Kloss. Viele Wochen lag sie auf der Intensivstation. Irgendwann war der Tiefpunkt erreicht und die Lunge erholte sich langsam. Kloss erinnert sich noch an ein Videotelefonat mit der Familie der Patientin, das er organisiert hat: „Die Ärzte, die Pfleger und ich standen heulend drumherum.“ Dass die Frau nun entlassen werden kann, sei immens wichtig für die Psyche aller auf der Station: „Es zeigt, dass die Arbeit nicht hoffnungslos ist.“

Solche Erfolge und der gute Zusammenhalt im Team treiben auch Müller an: „Wir helfen uns gegenseitig und schauen aufeinander. Auf der Intensivstation funktioniert es nur als Team.“ Während der Weihnachtsfeiertage kümmern sie sich deshalb in unveränderter Besetzung weiter um die schwer kranken Patienten.

An Heiligabend hat Müller frei, er will sich testen lassen und mit seinen Eltern und seinem Bruder im kleinen Kreis feiern. Angst, sich anzustecken hat er nicht. Seit März infizierte sich nur eine einzige Kollegin. Klinikchef Jürgensen hofft, dass nach Neujahr schon die ersten Hochrisiko-Patienten gegen das Virus geimpft sind und die Lage auf der Intensivstation beherrschbar bleibt.

Bei Dennis Müller klingelt wieder das Telefon, er muss weiter. Ein neuer Patient ist schon angekündigt und Müller muss das Beatmungsgerät aufbauen.

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Erstellt:
19.12.2020, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 59sec
zuletzt aktualisiert: 19.12.2020, 06:00 Uhr

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