Film

Julia Effertz: „Ich will Standards schaffen und bessere Sexszenen“

Intimitätskoordinatorin Julia Effertz choreografiert Liebesszenen wie Stunts. Es gibt in der Branche noch viel zu tun, das weiß sie aus eigener Schauspielerfahrung.

29.05.2021

Von Jana Zahner

Julia Effertz machte ihre Ausbildung zur Intimitätskoordinatorin bei Ita O?Brien, die etwa für Netflix die Liebesszenen der Serie „Sex Education“ choreografierte (Szenenbild). Foto: Sam Taylor/Netflix

Julia Effertz machte ihre Ausbildung zur Intimitätskoordinatorin bei Ita O?Brien, die etwa für Netflix die Liebesszenen der Serie „Sex Education“ choreografierte (Szenenbild). Foto: Sam Taylor/Netflix

Beim Dreh eines Actionfilms käme niemand auf die Idee, einen Schauspieler mit einer Waffe improvisieren zu lassen. Für solche riskanten Szenen gibt es Stuntexperten, die jeden Take choreografieren. Und Sexszenen? Seit dem Weinstein-Skandal und der „#MeToo“-Debatte wächst das Bewusstsein dafür, dass auch intime Szenen Narben bei Schauspielerinnen und Schauspielern hinterlassen können. Dem?Filmproduzenten Harvey Weinstein hat die „Frida“-Darstellerin Salma Hayek 2017 neben unzähligen sexuellen Übergriffen von vorgeworfen, sie zu einer Nacktszene mit einer anderen Frau gezwungen zu haben.

An immer mehr Sets arbeiten daher geschulte Filmschaffende wie Julia Effertz, die Machtmissbrauch und unklare Absprachen hinsichtlich Nacktheit und Intimität vor der Kamera verhindern sollen: Seit 2020 arbeitet die 41-Jährige als erste Intimitätskoordinatorin in Deutschland.

Frau Effertz, Sie haben jüngst mit Maria Furtwängler und Udo Lindenberg einen „Tatort“ gedreht. Werden wir mehr über das Liebesleben der Kommissarin Lindholm erfahren?

Julia Effertz : Darüber darf ich tatsächlich nichts sagen (lacht).

Sie leisten als erste Intimitätskoordinatorin in Deutschland seit 2020 Pionierarbeit. Wie klappt die Zusammenarbeit mit Darstellern und Regisseuren?

Was mich freut: Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass intime Szenen Risikoszenen sind, die psychische Verletzungen auslösen können. Ich freue mich über jede Produktionsfirma, die anklopft und sich ihrer Verantwortung als Arbeitgeber bewusst ist. Für die Schauspieler ist das besonders wichtig, die in ihrer Verletzlichkeit vor der Kamera agieren. Für Regisseure ist das Thema aber auch eine große Herausforderung – die sind sehr erleichtert, das abzugeben. So trocken sich das anhört: Arbeitsschutz bedeutet bessere Sexszenen.

Viele Schauspieler und Schauspielerinnen empfinden Sexszenen als den unangenehmsten Teil des Berufs?. . .

Bei keiner Szene klaffen Illusion und Wirklichkeit so weit auseinander. Wir als Zuschauer sehen Leidenschaft, aber die Herstellung solcher Szenen ist unnatürlich, surreal und null sexy. Die Intimsphäre ist verletzlich und schützenswert. Wenn ich auf der Straße einem anderen Menschen in den Intimbereich greife, mach ich mich strafbar, warum sollte es auf einem Filmset anders sein?

Wie schaffen Sie es, dass die Darsteller sich wohl und sicher fühlen?

Klare Kommunikation ist mein wichtigstes Handwerkszeug. Ich spreche mit allen Beteiligten über das Drehbuch. Frage die Schauspieler: Wo sind Deine Grenzen? Was möchtest Du zeigen, was nicht? Kein Schauspieler muss tun, was er nicht tun möchte. Und: Solche Szenen müssen choreografiert werden wie ein Tanz, man muss sie proben. Die Schauspieler müssen in jedem Moment wissen, was ihre Figur macht, wie sie sich bewegt und warum sie sich so ausdrückt.

Julia Effertz arbeitet seit 2020 als Intimitätskoordinatorin in Deutschland etwa für die Serie „Wild Republik“ zu sehen bei Magenta-TV. Foto: Luis Zeno Kuhn, Lailaps Pictures GmbH X Filme Creative Pool GmbH

Julia Effertz arbeitet seit 2020 als Intimitätskoordinatorin in Deutschland etwa für die Serie „Wild Republik“ zu sehen bei Magenta-TV. Foto: Luis Zeno Kuhn, Lailaps Pictures GmbH X Filme Creative Pool GmbH

Das klingt alles recht selbstverständlich . . .

Zuvor hat man die Schauspieler meist allein gelassen. Nach dem Motto: Ihr wisst ja, wie man küsst. Das ist fatal, denn es vermischt das Private mit der Rolle. Ich kenne sogar Geschichten von Vergewaltigungsszenen, die improvisiert wurden. Das ist nicht unbedingt böse gemeint. Viele tun sich am Set schwer, offen über Intimität zu sprechen. Was man oft hört: Die Sexszene schiebt jeder vor sich her und am letzten Drehtag gibt es keine Zeit mehr für Diskussionen.

Wie sind Sie auf den Beruf aufmerksam geworden?

2018 war ich bei den Filmfestspielen in Cannes, wo viel über den Weinstein-Skandal diskutiert wurde. Dort traf ich Ita O'Brien, eine der Pionierinnen auf dem Gebiet in Großbritannien. Sie hat schon vor dem Weinstein-Fall Richtlinien geschrieben. Ich las ihr Pamphlet und als Schauspielerin leuchtete mir das sofort ein. Ich dachte mir: Warum gibt es das nicht schon längst? Dann habe ich die Ausbildung bei O'Brien in London und bei Amanda Blumenthal in Los Angeles gemacht.

Was wollen Sie in der Branche erreichen?

Ich will etwas verändern, will Standards schaffen – und ich will bessere Sexszenen sehen (lacht). Mir ist wichtig, zu sagen: Auch ein Intimitätskoordinator ist ein Kreativschaffender. Die Sicherheit und das Storytelling gehen Hand in Hand. Ich hasse nichts so sehr wie eine Liebesszene, bei der ich keine Geschichte sehe, nicht verstehe, was zwischen den Figuren passiert.

Sie sind promovierte Literaturwissenschaftlerin, schreiben Drehbücher. Wie hat sich nicht nur die Produktion von Liebesszenen, sondern auch, was erzählt wird, verändert?

Wir reden viel über neue Themen, Diversity. Wie wird lesbischer Sex, wie wird LGBTQ dargestellt? Das sind in der deutschen Szene noch oft Klischeedarstellungen. Oder auch über weibliche Lust. Ich sag mal so: Bei uns ist es oft sehr weiß, sehr heteronormativ und nullachtfünfzehn Missionarsstellung. Was ich gerade auch feststelle, es geht wieder sehr in Richtung Zärtlichkeit, vielleicht hat das etwas mit Corona zu tun. Wir leben in einer Welt, in der Berührung etwas Kostbares geworden ist.

Bis Intimitätskoordinatoren in Deutschland Standard sind, wird es Jahre dauern. Wo muss man in der Branche noch ansetzen, um Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen zu verhindern?

Als Schauspielerin würde ich mir wünschen: Wir brauchen eine Stärkung des Berufs. Viele Schauspieler fühlen sich so machtlos, können kaum davon leben. Für Frauen ist es besonders hart: Auf eine Frauenrolle kommen drei Männerrollen. Wir brauchen Parität, auch bei den Teams hinter der Kamera. Wir müssen aufhören mit Künstlermythen wie „Nur wer über seine Grenzen geht ist ein Genie“. Das ist Bullshit.

Darstellerin in Großbritannien und Deutschland

Julia Effertz ist auch promovierte Literaturwissenschaftlerin. Foto: Teresa Marenzi

Julia Effertz ist auch promovierte Literaturwissenschaftlerin. Foto: Teresa Marenzi

Julia Effertz (41) erhielt ihre Schauspielausbildung in Paris und London und promovierte in Oxford. Nach der Arbeit an Theatern in Großbritannien zog sie 2012 nach Berlin. Seit 2020 arbeitet sie als erste Intimitätskoordinatorin in Deutschland. Sie betreute etwa den „Tatort – Alles kommt zurück“ sowie die Serien „Wild Republic“ und „Legal Affairs“ .

Die Online-Umfrage des Bündnisses „Vielfalt im Film“ zeigte 2020: Sexuelle Belästigung sind ein strukturelles Phänomen der Branche. 81 Prozent der befragten Frauen gaben an, in den letzten zwei Jahren sexuelle Belästigung bei der Arbeit erlebt zu haben – ein Großteil mehrfach.

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Erstellt:
29.05.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 56sec
zuletzt aktualisiert: 29.05.2021, 06:00 Uhr

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