Hagel-Hotspot Albtrauf?

Forschung über schwere Hagelunwetter

Im Südwesten gewittert es besonders häufig. Damit gibt es auch mehr Hagelniederschlag. Besonders betroffen: der Albtrauf. Forscher ergründen, ob sich hier stets das gleiche Phänomen abspielt.

21.08.2021

Von Tanja Wolter

Hagelkörner größer als Golfbälle, hier in Göppingen, richteten bei einem schweren Gewitter am 28. Juli 2013 enorme Schäden in der Region am Albtrauf an. Das Unwetter ging als „Hagelsturm von Reutlingen“ in die Geschichte ein. Foto: Daniel Maurer/dpa

Hagelkörner größer als Golfbälle, hier in Göppingen, richteten bei einem schweren Gewitter am 28. Juli 2013 enorme Schäden in der Region am Albtrauf an. Das Unwetter ging als „Hagelsturm von Reutlingen“ in die Geschichte ein. Foto: Daniel Maurer/dpa

Metzingen/Stuttgart. Ist die Gegend am Albtrauf besonders anfällig für schwere Hagelunwetter mit großen Schäden? Davon geht zumindest Rolf Bidlingmaier aus, der Leiter des Stadtarchivs in Metzingen. Er hat nicht nur die Hagelunwetter der letzten Jahre beobachtet, sondern vergleichbare Ereignisse bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt und kartiert. Seine These: Die Unwetter haben in der Regel immer dieselbe Zugbahn parallel zum Albtrauf und zum Neckar. Und auf dieser Bahn entwickle sich jeweils westlich von Oberndorf am Neckar eine Superzelle. Lassen sich daraus Schlussfolgerungen für künftige Unwetter ableiten?

Ganz so einfach ist es offenkundig nicht. Denn topografische Besonderheiten haben Meteorologen zufolge zwar Einfluss auf die Bildung von Unwettern. „Die Gewitterentstehung allgemein ist durch Mittelgebirge und Gebirge in aller Regel begünstigt, weil dadurch Luftmassen gehoben werden und labilisiert werden“, erklärt Andreas Pfaffenzeller vom Deutschen Wetterdienst (DWD) in Stuttgart. Für die Entstehung von Superzellen sei dies aber „nicht ausreichend“. „Dabei spielen andere Faktoren eine Rolle“, betont der Meteorologe.

Diese anderen Faktoren füllen ganze Fachbücher, wobei die Forschung dazu längst noch nicht abgeschlossen ist und selbst Meteorologen das Phänomen „Hagel“ nicht gänzlich durchblicken. Letztlich geht es um hochkomplexe Luftströmungen und atmosphärische Besonderheiten, die solche Superzellen entstehen lassen. Die mächtigen Gewittergebilde werden vom DWD auch als „rotierende Monster“ bezeichnet. Sie können über Stunden hinweg wüten und schlimmstenfalls auf hunderten Kilometern eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Wichtigstes Merkmal einer Superzelle ist ein rotierendes Aufwindfeld, die sogenannte Mesozyklone. Vorhanden sein muss auch bodennahe, feuchte Warmluft, die in die Zelle einströmt und nach oben steigt.

„Hagelsturm von Reutlingen“ ging in die Geschichte ein

Mögliche Folgen: große Hagelkörner, Überschwemmungen und sogar Tornados. Archivar Bidlingmaier war selbst schon mehrmals Leidtragender einer solchen Superzelle. Bei dem schweren Unwetter vom 28. Juli 2013 wurde sein Anwesen in Bempflingen (Landkreis Esslingen) in Mitleidenschaft gezogen. Das Unwetter ging als „Hagelsturm von Reutlingen“ in die Geschichte ein, betraf aber auch andere Gebiete und galt mit einer Schadenshöhe von insgesamt rund 3,6 Milliarden Euro als bis dahin größtes Hagelschadenereignis in Deutschland. In diesem Sommer schlug ein Hagelunwetter am 23. Juni zu, Bidlingmaier war erneut betroffen. Er verglich die Regenradar-Bilder der beiden Unwetter und kam zu dem Schluss: Die Zugbahn ist exakt gleich – die Unwetter zogen vom Oberen Neckar in nordöstliche Richtung über Sulz, Rottenburg, Tübingen, Reutlingen, Metzingen, Nürtingen, Kirchheim und Göppingen in Richtung Ostalbkreis und dann weiter nach Bayern. Entstanden waren die Gewitter jeweils im östlichen Schwarzwald.

Grafik: Peters

Grafik: Peters

Bidlingmaier recherchierte daraufhin in alten Hagelstatistiken des Königreichs Württemberg aus dem 19. Jahrhundert. Das Ergebnis: „Hagelunwetter am Albtrauf lassen sich bereits seit mehr als 250 Jahren nachweisen“, wobei die Zugbahn fast immer entlang von Albtrauf und Neckartal verläuft. Der Archivar vermutet, dass die Topografie – Schwäbische Alb im Südosten, Schwarzwald im Westen und das tief eingeschnittene Neckartal – die Wind- und Feuchtigkeitsverhältnisse beeinflusst und so die Entstehung von Superzellen am Oberen Neckar begünstigt.

Meteorologe Pfaffenzeller kann bestätigen, dass bei Unwettern mit Hagelgefahr in Süddeutschland allgemein die Gewitterrichtung von Südwesten nach Nordosten verläuft. Oft liege eine südwestliche Höhenströmung vor, mit der feuchtlabile Luft von Spanien und Frankreich transportiert werde. Der Experte bejaht auch, dass allgemein schwere Gewitter an und auf der Alb sowie südöstlich davon gehäuft auftreten. Indirekt lasse sich daraus ableiten, dass es dann dort auch eher Hagelniederschläge gibt. Dies gelte generell für höhergelegene Orte in Deutschland, also auch für Gebirgsregionen und das Alpenvorland. Ausschlaggebend für das Volumen von Hagelkörnern seien aber vor allem die Aufwinde. Nur damit können sich Hagelkörner in der Wolke halten und dort vergrößern.

Hagel ist ortsbezogen zu selten

Regionale Differenzierungen der Hagelhäufigkeit allein aufgrund von Hagelbeobachtungen sind laut DWD nicht möglich. Hagelniederschläge auf einzelne Ortspunkte bezogen seien zu selten, heißt es. Die Wetterexperten haben sich aber vorgenommen, über ihr modernisiertes Radarmessnetz die Warnungen vor Hagel zu verbessern – und mit den Daten zudem die räumliche Verteilung von Hagel besser zu analysieren.

Speziell im Bereich von Alb und Neckartal versucht derzeit auch die Messkampagne „Swabian Moses“, den extremen Wetterereignissen auf den Grund zu gehen. Beteiligt sind unter anderen das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und das Helmholtz Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Seit Mai werden, voraussichtlich noch bis Mitte September, an verschiedenen Messpunkten Informationen zum Zustand der Atmosphäre bei Unwettern, zur Menge an eisbildenden Partikeln in Gewitterwolken und zu den darin herrschenden Windverhältnissen erhoben. Wie beim DWD ist es Ziel, Unwettervorhersagen zu verbessern – „auch wenn dies aufgrund der chaotischen Natur der Atmosphäre eine große Herausforderung ist“, wie es in einer kurzen Zwischenbilanz im Juli heißt.

Ob Bidlingmaiers Superzellen-These dann doch noch den meteorologischen Ritterschlag bekommt? Wer weiß. In seiner Studie schreibt er selbst, dass das Phänomen „weiterer Untersuchungen bedarf“ und „nicht hinreichend erklärt“ sei. Dem Laien ist aber vor allem daran gelegen, die Menschen am Albtrauf stärker für Hagelunwetter zu sensibilisieren. Denn ihm zufolge sind immerhin 600?000 Bürger in mehr als 50 Städten und Gemeinden in der Gegend wiederkehrend davon betroffen.

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Erstellt:
21.08.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 37sec
zuletzt aktualisiert: 21.08.2021, 06:00 Uhr

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