Homosexualität in den Sechzigern

Helmut Kress wurde einst in Handschellen aus dem Tübinger Stadtplanungsamt abgeführt

Als 15-jähriger „Bauzeichen-Lehrling“ wurde Helmut Kress im Technischen Rathaus wegen eines Liebesbriefs an einen Mann verhaftet. Oberbürgermeister Hans Gmelin hatte Kress 1961 wegen seiner möglichen Homosexualität angezeigt.

09.02.2017

Von Christiane Hoyer

Helmut Kress, 71, mit seiner Hündin Schnecke in seinem Gasthaus, der Weinstube Göhner in der Schmiedtorstraße. Archivbild: Metz

Helmut Kress, 71, mit seiner Hündin Schnecke in seinem Gasthaus, der Weinstube Göhner in der Schmiedtorstraße. Archivbild: Metz

Es ist noch nicht lange her, da bekam Helmut Kress in seiner Tübinger Wirtschaft „Weinstube Göhner“ Besuch von Stadtarchivar Udo Rauch. Der hatte zufällig im vergangenen Herbst die ZDF-Sendung Mona Lisa gesehen. Und da berichtete Kress von jener Zeit, als er in Tübingen eine Lehre als Bauzeichner im Tübinger Rathaus machte und von jenem Ereignis im Jahr 1961. „Ich weiß bis heute nicht, wer mich angezeigt hat“, erklärte Kress in der Mona-Lisa-Sendung vom 19. November 2016.

Inzwischen weiß Kress dank der Recherchen des Tübinger Stadtarchivars, wer ihn, den minderjährigen jungen Mann, angezeigt hatte. Die Personalakte von Kress dokumentiert ein Schreiben des damaligen Tübinger Oberbürgermeisters Hans Gmelin vom 18. Oktober 1961 an das Amtsgericht Tübingen: „Das Städtische Personalamt hat in meinem Auftrag am 27. September 1961 der Landes-Kriminal-Hauptstelle Tübingen einen Brief übergeben, der von dem beim Stadtplanungsamt beschäftigten Zeichnerlehrling Helmut Kress abgefasst und an Helmut S. adressiert war. Nach dem Inhalt des Briefes könnte eine strafbare Handlung gemäß Paragraph 175 Strafgesetzbuch beabsichtigt gewesen sein.“

An seinen Brief kann sich Kress nur noch vage erinnern, wie er sagt. Er weiß bloß, dass das Schreiben in der Schublade seines Schreibtisches im Planungsamt lag. „Das war eine Schwärmerei für einen jungen Mann, den ich über eine meiner Schwestern öfters gesehen hatte“, so Kress. Aber offenbar habe sein „Lehrherr“ – an seinen Namen kann sich Kress nicht mehr erinnern – im Schreibtisch des Lehrlings gestöbert und den Brief weitergegeben. Das muss im Sommer 1961 gewesen sein – kurz nach dem Beginn seiner Lehre als Bauzeichner am 1. August 1961. Gleichgeschlechtliche, einvernehmliche Sexualität unter Männern war laut Paragraph 175 bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland strafbar.

Und dann ging alles ganz schnell: An einem Vormittag kamen im Sommer 1961 zwei Kripobeamte ins Stadtplanungsamt. „Sie sagten zu mir: Es liegt eine Straftat vor,. Sie haben mir Handschellen angelegt und mich mit dem Auto in die Gartenstraße gebracht“, berichtet Kress. Dort, wo heute die Jugendherberge untergebracht ist, hatte die Kriminalpolizei damals ihren Dienstposten, so Kress. Und dort verhörten sie den Jugendlichen „bis abends um 8 Uhr“ – ohne Rechtsbeistand. Dabei ging es keineswegs um den Liebesbrief, den Kress in der Schreibtisch-Schublade hatte liegen lassen. Dieser war vielmehr Anlass, um den Jugendlichen über die lokale Schwulen-Szene auszufragen. „Ich habe denen alles erzählt, was die wissen wollten, weil ich Angst hatte“, sagt Kress. Und die Kripo-Beamten ließen sich von dem jungen Kress „jede Einzelheit berichten“.

Helmut Kress ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Sein Vater war Oberzugführer bei der Bahn und selten zuhause, seine Mutter war wegen eines Tumors bettlägerig und starb früh. In der Pubertät, erzählt Kress dem TAGBLATT, habe er sich mehr zu Männern hingezogen gefühlt. Und bald entdeckte er den einschlägig bekannten Schwulen-Treff am Wildermuth-Gymnasium. Damals gab es dort noch eine Toilettenanlage, und dort nahm man Kontakt zu anderen Männern auf, die einem gefielen. „Wir waren eine Clique von fünf bis sechs jungen Kerlen, die sich dort getroffen hat“, sagt Kress. Und wenn ein Polizeiauto kam, versteckten sie sich im Gebüsch.

„Ich bin dort fast jeden Tag hingegangen“, so Kress. Für ihn sei das „ein reizvolles Abenteuer“ gewesen. Kress scheut sich auch nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Er spricht von „sexueller Gier“ und davon, dass er als „junger hübscher Kerl, keine Probleme hatte, Jungs zu kriegen“, mit denen er in der Lindenallee, die sich vom Wildermuth-Gymnasium bis zum Freibad hinzieht, „in die Büsche ging“. Was Kress und die Szene damals „auf den Wackel gehen“ nannten, musste er im Prozess vor dem Jugendschöffengericht des Tübinger Amtsgerichts erneut bis ins Detail schildern.

Zur Verhandlung gegen Kress war zwar die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Aber Kress‘ Vater durfte teilnehmen. Helmut Kress konnte jedoch durchsetzen, dass er bei den sexuellen Schilderungen nicht im Gerichtssaal war. In der Personalakte der Tübinger Stadtverwaltung sind auch das Urteil und die Aussagen von Kress über seine sexuellen Praktiken dokumentiert – auf eine Abschrift hatte OB Gmelin bestanden. Darin ist die Rede von „wechselseitiger Onanie“ an besagtem Schwulen-Treff und von „Afterverkehr“. Was die Schuldfähigkeit des angeklagten 16-jährigen betrifft, kam das Jugendschöffengericht zu dem Schluss: Kress habe zwar ein tiefes Schuldgefühl. Die Tatsache aber, dass er sich „hemmungslos mit jedem Mann ohne Rücksicht auf dessen Alter“ eingelassen habe, spreche dafür, dass Kress die Möglichkeit gegeben werden müsse, „das Maß seiner Schuld und Verfehlung durch eine Freiheitsentziehung zu ermessen“.

Am 2. Februar 1962 wurde Helmut Kress „wegen fortgesetzter Unzucht unter Männern“ nach Paragraph 175 Strafgesetzbuch und Paragraph 3 Jugendgesetz unter Amtsgerichtsrat Zimmer zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt. Kress kam ins ehemalige Zuchthaus nach Oberndorf am Neckar. In Einzelhaft. An die Eisentür mit Guckloch, ans hochgeklappte Bett und das Briefmarkenkleben tagsüber kann er sich noch heute erinnern. Nach den zwei Wochen Jugendarrest war das Verhältnis zu seinem Vater nachhaltig zerrüttet. „Wir haben fast nicht mehr miteinander gesprochen“, sagt Kress. Schon bald zog er zu einer seiner drei Schwestern, begann die Ausbildung in einer Damenschneiderei in Derendingen. Offiziell beendete er im Tübinger Planungsamt seine Lehre am 13. April 1962 „im gegenseitigen Einvernehmen“.

Kress ist trotz dieser Erfahrung ein kommunikationsfreudiger, offener Mensch. „Ich hatte auch nach dem Jugendarrest meinen Spaß“, sagt er. Aber er habe seine Lehren daraus gezogen, sei beim Umgang mit Männern nach außen „vorsichtiger geworden“. Aber: „Ich habe nie ein Doppelleben geführt“, so Kress. Er hatte als Gastronom und Hotelier in den vergangenen Jahrzehnten in Berlin, München, Offenburg und Rothenburg öfters enge Bekanntschaften. Aber der „totale Bruch“ mit seinem Vater hat ihm sehr zu schaffen gemacht. Als sein langjähriger Lebenspartner 2002 ermordet wurde und ihm „nichts mehr blieb“, fiel Kress psychisch erst in ein tiefes Loch. Doch immer, sagt er, ist er mit seiner Homosexualität offen umgegangen.

Seit Kress die Dokumente aus dem Stadtarchiv kennt, hat sich sein Blick auf OB Hans Gmelin verändert. „Dass er einen Jugendlichen wie mich so diffamieren kann, ohne mit mir zu reden, das finde ich erschütternd.“ Nun fragt sich Kress, wo seine Gerichtsakte abgeblieben ist. Weder in Tübingen noch in Sigmaringen wurde er fündig, sagt er. Am Rande der Berlinale wird er am kommenden Dienstag bei einem Themenabend als Zeitzeuge sprechen.

Helmut Kress als 16-Jähriger. Privatbild

Helmut Kress als 16-Jähriger. Privatbild

Der Paragraph 175 und das Projekt LSBTTIQ

Das Bundesfinanzministerium hat einen Gesetzesentwurf zur Entschädigung homosexueller Männer ausgearbeitet, die nach Paragraph 175 verurteilt wurden.

Der Paragraph 175 hat bis 1969 homosexuelle Männer bestraft, die einvernehmlichen Sex mit anderen Männern hatten. Ganz abgeschafft wurde der Paragraph erst 1994.

Noch unter der grün-roten Regierung hat Baden-Württemberg eine Anschubfinanzierung für das Projekt „LSBTTIQ“ initiiert. Es erforscht seit 2016 unter anderem über die Homepage Public History die Diskriminierungen von Menschen, die schwul, lesbisch, trans- oder intersexuell, transgender oder queer sind, unter anderem mit Interviews über die Magnus-Hirschfeld-Stiftung. Der Historiker Karl-Heinz Steinle hat den Tübinger Helmut Kress befrag. Über Interviews, sagt er, bekomme man oft erste Hinweise, wo Quellen zu finden sind. Betroffene können sich über die Homepage www.lsbttiq-bw.de melden.

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Erstellt:
09.02.2017, 22:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 41sec
zuletzt aktualisiert: 09.02.2017, 22:00 Uhr

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