Corona

Hektik, Wut und ein Augenschimmern

Die Arbeit in Seniorenheimen hat sich in der Pandemie verändert, die Belastungen sind nochmal gestiegen. Beobachtungen aus dem neuen Alltag einer Altenpflegerin.

09.03.2021

Von YASMIN NALBANTOGLU

Altenpflegerin Dagmar Pohl beim Nachmittags-Kaffee mit Bewohner Hartmut Joos. Der 87-Jährige wurde bereits gegen Corona geimpft. Dennoch gilt Maksenpflicht für Pflegekräfte. Foto: Volkmar Könneke

Altenpflegerin Dagmar Pohl beim Nachmittags-Kaffee mit Bewohner Hartmut Joos. Der 87-Jährige wurde bereits gegen Corona geimpft. Dennoch gilt Maksenpflicht für Pflegekräfte. Foto: Volkmar Könneke

Ulm. Zügig rührt Schwester Dagmar einen Brei aus Kuchen und Kaffee an. Die FFP2-Maske dicht auf Nase und Mund, die Brille leicht beschlagen. Sie führt den Löffel mit Brei an die Lippen der alten, dünnen Frau. Diese liegt im Bett, den Blick starr geradeaus. Ihr Mund öffnet sich. Der zweite Löffel. Ihr Mund bleibt zu. „Es schmeckt ihr nicht“, stellt die Schwester fest. „Wenn sie etwas mögen, sehe ich auch einen Schimmer in den Augen.“

Mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung haben die 60-jährige Altenpflegerin Dagmar Pohl geschult, Zeichen wie diese zu erkennen. In den Beruf ist sie nach dem Archäologie- und Ägyptologie-Studium und drei Kindern „so reingerutscht“. Heute arbeitet sie als Pflegefachkraft im Olga-und-Josef-Kögel-Haus im Ulmer Teilort Wiblingen.

32 Pflegekräfte kümmern sich in dem Haus aktuell im Schichtbetrieb um 39 pflegebedürftige Bewohner. Die Pandemie hat den Beruf hektischer gemacht: weitere Aufgaben, erschwerte Arbeitsbedingungen und Sorgen von Bewohnern und Angehörigen.

Abstand in der Pflege?

Kurz nach Schichtbeginn für Schwester Dagmar: Die Hälfte der Bewohner ihrer Station sitzt im Speisesaal und wartet auf den Nachmittags-Kaffee. Die anderen sind auf ihren Zimmern. Um den Mindestabstand einzuhalten, dürfen nicht alle Senioren im Esszimmer Platz nehmen.

Auch die Pflegerin sollte 1,5 Meter Abstand halten. „Wie soll das gehen?“, fragt sie. „Wie soll ich das dementen Bewohnern erklären?“ Die Schwester braust durch den Speisesaal und serviert Kuchen. „Ciao Bello!“ ruft sie einem aus Italien stammenden Senioren zu. „Ciao Bella“, entgegnet er lächelnd. Gemeinsam mit einer Pflegehelferin ist sie heute für ein Dutzend Bewohner zuständig. Machbar.

„Stau auf der A8! Achtung, liebe Fahrer, stockender Verkehr, ausgelöst durch vier Damen“, ruft Schwester Dagmar den Seniorinnen zu, die den Weg blockieren. Die Frauen lachen in ihren Rollstühlen.

Seit Corona können Besucher das Haus nur noch nach Ankündigung betreten. Manchmal müssen die Pflegekräfte ihre Arbeit unterbrechen, um die Eingangstüre für Besucher zu öffnen. Daten aufnehmen, Formulare ausfüllen, die Besucher zum Corona-Testraum bringen. Angehörige erkundigen sich am Telefon nach den Bewohnern, Ärzte ordnen neue Behandlungen an. „Alles nebenher.“

Zusätzlich erschwert die FFP2-Maske die Arbeit. „Wenn ich zwei bis drei Leute duschen muss mit der Maske“, gesteht die robuste Pflegerin, „da komme ich an meine Grenzen.“ Zeit für eine Zigarette vor der Tür. Zum ersten Mal seit Schichtbeginn zieht Dagmar Pohl ihre FFP2-Maske ab. Durchatmen. Ihr Dienst geht sieben Stunden. Pünktlich komme sie selten raus. Sie könne schließlich nicht alles stehen und liegen lassen. Pro Schicht steht ihr eine halbe Stunde Pause zu. „Das reicht,“ sagt sie. „Das ist gut.“

Von anderen Pflegeheimen sei sie weniger gewohnt. Im Wiblinger Pflegeheim fühle sie sich gut aufgehoben. Sie zieht ein paar Mal an ihrer Zigarette. Das Telefon in ihrer Brusttasche läutet. Ein Angehöriger möchte einen Besuchstermin vereinbaren. Weiter geht's.

Die Medikamente, die die Bewohner abends bekommen, hat Schwester Dagmar vorbereitet. Sie hat die Bewohner gewaschen, eine Matratze ausgetauscht, Fußpflege gebucht, weitere Telefonate geführt und wichtige Ereignisse, beispielsweise wenn ein Bewohner nicht genug gegessen hat, dokumentiert.

„Heute ist ein ruhiger Tag“, sagt Schwester Dagmar. Die Pflegerin deutet auf einen Rollator. „Frau Haag ich leih mir den glatt mal aus, der ist gut!“ Frau Haag lächelt. Solche Erlebnisse braucht Schwester Dagmar.

„Von der Politik fühlt man sich als Pflegekraft verarscht“, sagt sie. Dass in der Coronakrise vermehrt vom Pflegenotstand gesprochen werde und Menschen plötzlich anfingen, auf ihren Balkonen für Pflegekräfte zu klatschen, empfindet sie als weltfremd. „Das hilft uns nicht.“ Den Notstand gebe es seit Beginn ihrer Karriere. „Die Pflege hat oft genug geschrien.“ Getan habe sich nichts. „Ich gebe nicht auf,“ betont sie, „ich werde nur wütend.“

Eine Zweiklassengesellschaft

Sie ist wütend über unfaire Löhne in der Branche. Wütend über eine Zweiklassengesellschaft, in der Krankenpfleger viel Schulterklopfen bekommen und Altenpfleger höchstens wahrgenommen werden. Wütend darüber, dass Rentner, die sich Geld angespart haben, zu Sozialhilfeempfängern werden, wenn sie die Kosten für ein Altenheim decken müssen. Corona habe alles verschlimmert. „Wir werden alle älter und wir werden in die gleiche Situation kommen. Wir können uns nicht wehren.“

Wenn sie später selbst soweit ist, möchte Dagmar Pohl nicht in einem Altenheim leben. „Aber ich werde dort hingehen müssen“, ist sie sich sicher. „Als Bewohnerin werde ich es meinen zukünftigen Kollegen etwas schwerer machen“, sagt sie zwinkernd. Blick in den Speisesaal. Die Senioren haben gegessen. Sie müssen nun gewaschen und ins Bett gebracht werden.

Im Zimmer einer Bewohnerin zippt Schwester Dagmar durch die TV-Kanäle. „Sport?“, fragt sie die alte, dünne Frau. Sie wechselt das Programm. „Eine Kochsendung?“ Keine Reaktion. „Das gefällt ihr“, sagt Schwester Dagmar. Sie hat den Schimmer in den Augen gesehen.

Ausnahmsweise ohne Maske: Schwester Dagmar im Garten. Foto: Volkmar Könneke

Ausnahmsweise ohne Maske: Schwester Dagmar im Garten. Foto: Volkmar Könneke

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Erstellt:
09.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec
zuletzt aktualisiert: 09.03.2021, 06:00 Uhr

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