Klimaschutz

Gewaltige Aufgaben liegen vor dem Land

Um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen und neue Vorgaben der EU einzuhalten, wird sich das Land einiges einfallen lassen müssen. Die dicksten Brocken sind Wärme und Verkehr.

28.01.2021

Von JENS SCHMITZ

Der Ausbau der Solarenergie ist ein wichtiger Teil der Energiewende. Foto: Illustration: Bock

Der Ausbau der Solarenergie ist ein wichtiger Teil der Energiewende. Foto: Illustration: Bock

Stuttgart. Das alte Kernkraftwerk neben den Philippsburger Rheinauen ist seit mehr als einem Jahr abgeschaltet; vergangenen Mai wurden die Kühltürme gesprengt. Auf ihrem Grundriss jedoch herrscht jede Menge Aktivität. „Das ist ein sehr spannendes Projekt“, sagt David Moser, Pressesprecher der Netzbetreibergesellschaft TransnetBW. „Da wird die Energiewende Realität!“ Das Projekt ist ein 500 Millionen Euro teures Umspannwerk. Von 2025 an soll dort Ökostrom aus norddeutschen Windparks für Baden-Württembergs Netz ankommen.

Wer über die Klimaschutz-Aufgaben der nächsten Landesregierung nachdenkt, muss wissen: Allein kann der Südwesten die Energiewende nicht bewältigen. 2019 lag der Bruttostromverbrauch bei 70,6 Terawattstunden (TWh), die Bruttostromerzeugung bei 57,7 TWh. Rund 13 TWh müssen also bereits jetzt importiert werden. Mit dem fortschreitenden Verzicht auf Kohle- und Atomstrom wächst diese Diskrepanz.

Während die großen deutschen Verbrauchsregionen im Süden und Westen liegen, stammt der meiste Ökostrom aus norddeutschen Windparks. „Wir haben schon jetzt das Problem, dass wir in Norddeutschland sehr viel mehr produzieren als abtransportiert werden kann“, sagt Moser. „Wir kloppen sprichwörtlich den Grünstrom in die Tonne.“

Teil des „SuedLink“-Projekts

Deshalb setzt die Energiewende auf große Stromautobahnen. Das Ausbauprojekt „Ultranet“, zu dem der TransnetBW-Konverter gehört, wird von Nordrhein-Westfalen nach Philippsburg verlaufen. Eine ähnliche Trasse ist als Teil des „SuedLink“-Projekts zwischen Schleswig-Holstein und Großgartach geplant.

Die umstrittenen Wind-Turbinen ganz den Norddeutschen überlassen könne man trotzdem nicht, sagt Moser. Schon der Netzstabilität wegen müsse Baden-Württemberg so viel Ökostrom wie möglich selbst produzieren. „Sie müssen sich aber auch vor Augen halten, was die Menschen in Norddeutschland sagen, wenn dort alles mit Windkraft zugepflastert wird und wir hier unten nur verbrauchen.“ Auch Windanlagen in Baden-Württemberg und Bayern hätten ihre Berechtigung.

Auf große Teile der Klimapolitik hat die Landesregierung allenfalls indirekt Einfluss. CO2-Grenzwerte werden in Brüssel festgelegt. Den Kohleausstieg, CO2-Preise, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) oder Effizienzstandards regelt Berlin. Dem Land bleiben Instrumente wie Beratung, Förderung und ordnungsrechtliche Maßnahmen.

In einem Ländervergleich landete Baden-Württemberg zwar wieder auf einem Spitzenplatz – aber das genügt nicht, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens oder die neuen EU-Vorgaben zu erreichen.

Zu den dringlichsten Aufgaben gehört deshalb die erneute Novellierung des Klimaschutzgesetzes (KSG). Nach langem Tauziehen hatte der Landtag erst im Oktober eine Neufassung verabschiedet. Doch inzwischen hat die EU ihr Ziel für das Jahr 2030 auf 55 Prozent CO2-Reduktion gegenüber 1990 erhöht. Nun müssen auch die Landesvorgaben nachgeschärft werden. Die Plattform Erneuerbare Energien Baden-Württemberg hält eine CO2-Reduzierung um 50 Prozent für notwendig, der BUND sogar um 90 Prozent. Die größten Brocken sind Wärme und Verkehr.

Noch immer heizen rund 33 Prozent aller Haushalte im Land mit Öl. Parallel dazu gibt es große Spielräume bei der Effizienz. Rund 70 Prozent der Wohngebäude im Land wurden vor der ersten Wärmeschutzverordnung 1977 errichtet.

Das Thema Verkehr gehört zu den größten Streitpunkten. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hält es für nötig, bis 2030 den Öffentlichen Verkehr zu verdoppeln, den Kfz-Verkehr in Städten um ein Drittel zu reduzieren, jedes dritte Auto klimaneutral anzutreiben und jede dritte Tonne im Güterverkehr klimaneutral zu transportieren. Außerdem müssten die Bürger jeden zweiten Weg per Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen. Zielvorgaben, die der Koalitionspartner CDU als „ökologische Planwirtschaft“ abgelehnt hat. Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) und ihre Parteifreunde setzen vor allem auf technische Innovation.

Die Abwägung zwischen einschneidenden Vorsorgemaßnahmen und der Hoffnung auf technische Durchbrüche fällt auch bei den Oppositionsfraktionen SPD, FDP und AfD unterschiedlich aus – wobei letztere dazu tendiert, den Klimawandel nicht als menschengemacht und Maßnahmen dagegen skeptisch zu betrachten.

Wenn der von vielen Akteuren diskutierte vorgezogene Kohle-Ausstieg bis 2030 gelingen soll, muss aber vor allem die Öko-Stromproduktion erhöht werden. Zuletzt waren gut 6100 Megawatt Photovoltaikleistung installiert und gut 1600 Megawatt Windkraft. Vor allem der Windkraftausbau ist fast zum Erliegen gekommen. Schuld daran waren unter anderem Ausschreibungsmodalitäten des Bundes, die Südländer benachteiligten. Mit dem überarbeiteten EEG sollte dieses Problem gelöst sein.

Ein weiteres Problem sind Genehmigungsverfahren, die mittlerweile im Schnitt fünf Jahre dauern. Die kommende Regierung wird entscheiden müssen, ob sie nur das Planungsrecht vereinfacht oder die Umweltverwaltung weiter ausbaut. Auch der Aufbau einer eigenen Klimaschutzverwaltung ist im Gespräch.

Zur Photovoltaik hat der Landtag eine Solarpflicht auf neuen Nicht-Wohngebäuden und größeren Parkplätzen beschlossen. Wohngebäude könnten folgen. 2019 ging auf einem Baggersee bei Renchen Deutschlands größte schwimmende Photovoltaik-Anlage in Betrieb. Und es gibt weitere Perspektiven.

In Donaueschingen stapft Christian Meyer durch einen tief verschneiten Solarpark und sieht höchst zufrieden aus: „Jetzt mit Schnee ist es natürlich grandios“, sagt der Projektentwickler. „Auf unserer Anlage bleibt er nämlich nicht liegen. Und wir haben bis zu 40 Prozent höhere Erträge durch die Reflektion.“

Der 32-Jährige arbeitet für die Firma Next2Sun, die ein einfaches Patent ersonnen hat: vertikal montierte Solarmodule. Das ist selbst in der noch jungen Agro-Photovoltaik (Agro-PV) ein Novum. In Baden-Württemberg herrscht durch den Wohnungsmangel ohnehin Flächennot. Großflächige Photovoltaikanlagen erhöhen den Druck auf die Landwirtschaft. Als Agro-PV werden Solarparks bezeichnet, in denen auch bäuerliche Bewirtschaftung möglich ist.

Die vertikale Next2Sun-Ausrichtung bei Donaueschingen wird seit Oktober kommerziell genutzt. Auf einer Fläche von 14 Hektar sind hier 11?000 Solarmodule verbaut, die von beiden Seiten Energie aufnehmen. Der Abstand zwischen den knapp drei Meter hohen Reihen beträgt zehn Meter, sodass Landwirte die Fläche gut befahren können. Sie wird als Grünland zur Produktion von Silage genutzt. „Es bleiben über den Daumen gepeilt 90 Prozent der Solarparkfläche für die landwirtschaftliche Nutzung erhalten“, sagt Meyer.

Probleme mit Genehmigungen

Der Agrarausschuss des Landtags hat Agro-PV nach einer Expertenanhörung im Herbst großes Potenzial bescheinigt. Die Fachleute hatten allerdings auch auf Hausaufgaben verwiesen: Baugenehmigungen seien bislang schwer zu bekommen. Das EEG lasse auf landwirtschaftlichen Nutzflächen erzeugten Strom außen vor. Und Agrarsubventionen für Landwirtschaftsflächen mit Photovoltaik seien bislang verboten.

Bei Bauern, Naturschutzbehörden und Gemeinden registriert Mayer zunehmend Interesse an seinem Ansatz. Er würde sich wünschen, dass entsprechende Anlagen gesondert gefördert werden und auch in landwirtschaftliche Vorranggebiete Einzug halten dürfen. „Die Ziele sind hochgesteckt, wenn wir wirklich die Energiewende schaffen wollen.“

Werden die Anlagen senkrecht aufgestellt, kann die Fläche dazwischen von Landwirten genutzt werden. Foto: Illustration: Bock

Werden die Anlagen senkrecht aufgestellt, kann die Fläche dazwischen von Landwirten genutzt werden. Foto: Illustration: Bock

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Erstellt:
28.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 06sec
zuletzt aktualisiert: 28.01.2021, 06:00 Uhr

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