Klassik

Getestet für die Musik

Ein Live-Besuch beim Livestream: Marcus Bosch und seine Cappella Aquileia konzertieren in Heidenheim mit Weltklasse-Cellistin Camille Thomas.

20.04.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Können die Heidenheimer Opernfestspiele im Sommer stattfinden  und wenn ja, wo? Der Rittersaal von Schloss Hellenstein wird saniert, das Congress Centrum dient derzeit als Impfzentrum. Foto: Jürgen Kanold

Können die Heidenheimer Opernfestspiele im Sommer stattfinden und wenn ja, wo? Der Rittersaal von Schloss Hellenstein wird saniert, das Congress Centrum dient derzeit als Impfzentrum. Foto: Jürgen Kanold

Heidenheim. Eine Schlange hat sich vor dem Congress Centrum gebildet. Ist an diesem Sonntagabend die Öffentlichkeit zugelassen beim Meisterkonzert mit der Cappella Aquileia, dem Orchester der Heidenheimer Opernfestspiele? Natürlich nicht. Das CCH dient derzeit als Impfzentrum. Also den Schlossberg runter, zum Jugendstil-Konzerthaus, wo ein Dvorak-Programm gespielt wird – fürs Online-Publikum als Livestream.

Der Auftrittsapplaus fehlt, Marcus Bosch im Konzertfrack wartet stumm am Dirigentenpult, bis die Aufnahmeleiterin die Zeit herunterzählt. Noch 30 Sekunden, noch zehn Sekunden. Dann taucht aus Klangwellen der „Wassermann“ auf. Die rund 60-köpfige Cappella Aquileia sitzt im schuhschachtelartigen Saal und erzählt aufwühlend romantisch diese sinfonische Dichtung des böhmischen Komponisten.

Nach dem letzten Ton nimmt Bosch ein Mikrofon in die Hand und grüßt in eine Kamera. Der Dank geht an die Voith-Stiftung, mit deren Hilfe die Opernfestspiele nach einer Mozart-Gala bereits das zweite Meisterkonzert im Lockdown realisieren, um freischaffende Künstlerinnen und Künstler (auch mit Spenden) zu unterstützen. Partner ist Idagio, der führende Streaming-Service für klassische Musik (9,90 Euro kostet gewissermaßen der Eintritt, verfügbar bis 24. Mai).

Dirigent und Heidenheimer Festspielchef Marcus Bosch. Foto: Jürgen Kanold

Dirigent und Heidenheimer Festspielchef Marcus Bosch. Foto: Jürgen Kanold

Und möglich macht das in dieser Pandemie auch ein vom Rostocker Biotech-Unternehmen Centogene unterstütztes Hygienekonzept mit konsequenten Covid-19-Tests. Marcus Bosch leitet nicht nur als künstlerischer Direktor die Heidenheimer Opernfestspiele, er fungiert ebenso als Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie Rostock und ist als Vorsitzender der deutschen GMD- und Chefdirigent*innenkonferenz als Netzwerker wie Funktionär präsent: So waren seine Orchester schon im vergangenen Corona-Jahr deutschlandweit früh und ganze vorne dabei mit Pilotprojekten.

Feuermann-Stradivari

Die Kulturnation am Boden – auf der Ostalb werden die Fahnen kreativ hochgehalten. Und zwar auf Weltklasse-Niveau: Camille Thomas, Exklusiv-Künstlerin der Deutschen Grammophon, agiert mal nicht auf Pariser Dächern oder solo in Museen, sondern war nach regelkonformer Quarantäne jetzt in Heidenheim die Solistin in Dvoraks Cellokonzert. Ein unglaublich intensives Spiel, ein geradezu existenziell körperliches. Und ein wunderbarer Ton der 32-Jährigen auf dem berühmten „Feuermann“-Stradivari-Cello, einer Leihgabe der Nippon Foundation: so elegant wie knarzend radikal, so anhimmelnd verträumt wie herzhaft groß und glanzvoll.

Marcus Bosch war Generalmusikdirektor in Nürnberg, der Partnerstadt Prags, er hat schon die Dvorak-Sinfonien auf CD aufgenommen. Nur keine falsche Ehrfurcht vor dem nationalen tschechischen Kulturgut, kein „Überpathos“, erklärt der Heidenheimer während der Pause seinen Ansatz in der Künstlergarderobe. Und demonstriert die Erkenntnisse später mit der ausgezeichneten Cappella Aquileia auch in einer straffen, mitreißenden Aufführung der 8. Sinfonie.

Der Dirigent zeigt sich „richtig stolz“ im Gespräch, dass das Streaming so erfolgreich laufe – bei der Mozart-Gala waren es 600 Zuschauende gewesen (ein Spitzenwert für eine Stadt mit knapp 50?000 Einwohnern!). Und sehr wichtig sei es, den Freischaffenden zu helfen. Vielen Künstlern sei komplett das Einkommen weggebrochen, mancher auf dem Spargelfeld gelandet. Für die Opernfestspiele im Sommer hätten ihm schon drei Sänger abgesagt, weil sie den Beruf gewechselt hätten. „Die Lage ist dramatisch, die Politik aber zeigt große Ermüdungserscheinungen.“

Wie geht es in Heidenheim weiter, haben die Opernfestspiele eine Chance? Richard Wagners „Tannhäuser“ soll am 1. Juli Premiere feiern. Aber selbst wenn die Corona-Zahlen Aufführungen möglich machten: Die Freilichtbühne im Rittersaal von Schloss Hellenstein wird saniert und das Festspielhaus CCH ist noch ein Impfzentrum. „Wir basteln daran, das geht seinen politischen Gang“, sagt Bosch mit der ihm eigenen Zuversicht des Machers.

Jetzt muss er wieder raus in den Saal, Camille Thomas fragt noch für ein Selfie mit ihm an – dann zündet dramatisch-folkloristisch Dvoraks Achte. Nur der Applaus ist sehr dünn – weil das Live-Publikum fehlt.

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Erstellt:
20.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 48sec
zuletzt aktualisiert: 20.04.2021, 06:00 Uhr

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