Tübingen · Pandemie

Expertin zu Afrika: Geradezu ein Corona-Tsunami

Die Difäm-Direktorin Gisela Schneider kämpft gegen das Vergessen Afrikas.

10.07.2021

Von Wolfgang Albers

Afrika ist der vergessene Kontinent und Gisela Schneider momentan seine vergessene Expertin. „Ich bekomme kaum Medien-Anfragen“, sagt die Direktorin des Difäm, des Deutschen Institutes für Ärztliche Mission. „Wir sind gerade mit Fußball und ähnlichem beschäftigt.“ So war auch das Publikum am Donnerstagabend in der Begegnungsstätte Hirsch sehr überschaubar: Elf Interessierte waren zu ihrem Vortrag über aktuelle Corona-Entwicklungen gekommen, das Patienten-Forum Tübingen hatte dazu eingeladen.

Die Lage ist katastrophal. Nicht in Deutschland mit seiner Corona-Sommerpause. Durch Afrika aber läuft gerade eine Corona-Welle. Nein, das trifft es nicht genau, sagt Gisela Schneider: „Das ist geradezu ein Corona-Tsunami.“

Sie braucht zu dieser Einschätzung nur in ihre täglichen Mails zu schauen. „Uns geht es hier nicht gut“, liest sie da. „Viele Menschen sterben mit Anzeichen von Covid. Es ist schwierig, hier Tests durchzuführen. Wenn es so weitergeht, wird es eine große Katastrophe geben. Es gibt nur wenige Impfstoffe. Bitte hilf uns.“ Oder: „Ich liege hier im Krankenhaus, und es geht mir nicht gut. Ich bekomme schlecht Luft. Sie haben Covid diagnostiziert und es geht nun schon sieben Tage so. Kannst du mir helfen?“

Covid trifft in Afrika auf ein Gesundheitssystem, das überhaupt nicht für eine solche Pandemie ausgestattet ist. Und es trifft auf schutzlose Menschen. Stand Mitte Juni waren 0,63 Prozent der Menschen geimpft. Sie hatten ja auch keine Möglichkeit für einen Piks: Afrika hat zwei Prozent der weltweiten Impfdosen erhalten. Flatten the curve? „Afrika hat dazu gar keine Chance!“

Das ist es, was Gisela Schneider umtreibt: „Wenn reiche Länder betroffen sind, dann sind wir sehr schnell. Zurück bleiben die Länder, deren Gesundheitssysteme sowieso schon sehr schlecht sind. Am Ende sterben Menschen in ärmeren Ländern häufiger, werden die Armen ärmer und die Reichen reicher.“

Ganz im Einklang mit den UN-Nachhaltigkeitszielen, die hochwertige und bezahlbare Impfstoffe für alle fordern, und ganz im Einklang mit WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Impf-Nationalismus für moralisch unvertretbar hält, sagt auch Gisela Schneider: „Die Nagelprobe der Solidarität ist das Impfen.“

Es gibt ja das Covax-Programm: Die reichen Länder geben Geld, damit ärmere Länder Impfstoffe kaufen können. Deutschland ist einer der größten Spender, und Gisela Schneider erkennt das durchaus an. Aber: Der Topf wird es vielleicht schaffen, dieses Jahr zehn Prozent geimpft zu bekommen. Und: „Es ist das alte Muster: milde Gaben.“

Gisela Schneider fordert Hilfe zur Selbsthilfe. Dafür hat die WHO einen Pool aufgelegt, der freien Zugang zu Informationen, Daten und Technologien ermöglicht, der auch ärmeren Ländern eine Produktion von Impfstoffen ermöglicht.

Nur: Dieser Pool ist noch völlig leer. Zwar hat schon Amerikas Präsident Joe Biden für eine Patente-Freigabe plädiert: „Aber die EU steht in ihrer Ablehnung wie eine Eins, und Frau Merkel ganz vorne dran. Spenden ja, aber kein Transfer.“

Dass Gisela Schneider so vehement dafür ficht, hat mit ihrer Biographie zu tun. 20 Jahre lang, 1984 bis 2004, war sie Ärztin in Afrika. Hat Aids kommen und viele Afrikaner sterben sehen. Ihre Hilfe – sicher eine wertvolle – war es, das Sterben zu lindern. Gleichzeitig rettete eine antivirale, sehr teure Therapie ab Mitte der 1990er Jahre den Patienten reicher Länder das Leben.

Sie hat aber auch auf Kongressen den Kampf um eine Patente-Freigabe erlebt. Einen erfolgreichen Kampf: Aids ist heute in Afrika eine chronische Krankheit und kein Todesurteil mehr: „Ich habe Menschen sterben sehen, und jetzt leben sie.“

So soll es auch mit Corona sein. Aus Solidarität – und aus purem Eigeninteresse. Die Corona-Sommerpause solle niemanden täuschen, warnt Gisela Schneider: „Machen wir uns doch nichts vor: Wir sind nicht am Ende der Pandemie. Wir sind erst am Ende, wenn alle Menschen geimpft sind. Wir müssen also handeln. Aber wer tut es?“

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Erstellt:
10.07.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 56sec
zuletzt aktualisiert: 10.07.2021, 01:00 Uhr

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