Arbeitsmarkt

„Für Schulabgänger wird es schwierig“

Kurzarbeit und Corona erschweren die Lehrstellensuche massiv. Das macht Christian Rauch, Chef der BA in Baden-Württemberg, derzeit mehr Sorgen als der Strukturwandel.

09.01.2021

Von JULIA KLING UND ALEXANDER BÖGELEIN

Der Ausbildungsmarkt wird 2021 noch enger: „Mich treibt um, wie wir in dieser Situation die jungen Menschen unterbringen“, sagt Christian Rauch, Chef der Bundesagentur für Arbeit im Südwesten. Foto: Tom Weller/dpa

Der Ausbildungsmarkt wird 2021 noch enger: „Mich treibt um, wie wir in dieser Situation die jungen Menschen unterbringen“, sagt Christian Rauch, Chef der Bundesagentur für Arbeit im Südwesten. Foto: Tom Weller/dpa

Ulm. Dagegen war die Finanzkrise ein Spaziergang. So beschreibt Christian Rauch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit, das Ausnahmejahr 2020. Trotz und wegen Corona: „Wir mussten weiter für unsere Kunden ansprechbar sein“, sagt Rauch. Dazu wurden Abläufe und Organisation umgekrempelt, um den Berg von 688 400 Arbeitslosenmeldungen und 128 000 Kurzarbeitsanmeldungen zu bewältigen. 623 100 Menschen fanden wieder eine Stelle. Ein Blick zurück – und voraus auf den Arbeitsmarkt in diesem Jahr.

Herr Rauch, wo steht der Arbeitsmarkt im Südwesten in einem Jahr?

Christian Rauch: Wir werden Ende nächsten Jahres die reinen Corona-Auswirkungen am Arbeitsmarkt weitgehend quantitativ verarbeitet haben. Das heißt aber nicht, dass der Arbeitsmarkt dann dort steht, wo er in seiner Blüte 2018 gestanden ist.

Wie meinen Sie das?

Die Zahl der Arbeitslosen wäre auch ohne Corona im Jahr 2020 nochmal angestiegen, weil schon vor der Pandemie einige Herausforderungen deutlich sichtbar waren. Deshalb werden wir zum Jahresende 2021 mehr Arbeitslose haben als 2019.

Wen wird es am meisten treffen?

Am meisten betroffen sind die Branchen Hotel und Gastronomie, an zweiter Stelle der Handel. Für den Tourismus habe ich die Hoffnung, dass er sich bis zum Jahresende wieder weitgehend erholt, abgesehen vom Thema Geschäftsreisen. Da wird die eine oder andere Dienstreise Skype, MS Teams & Co zum Opfer fallen. Aber die Arbeitslosigkeit, die wir durch die zwei Lockdowns bekommen haben, wird relativ schnell beseitigt werden.

Wo sehen Sie die größten Veränderungen am Arbeitsmarkt?

In unserer Leitindustrie, dem Automotive-Bereich. Da sind die Produktionszahlen schon vor Corona deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2018 setzten die Hersteller weltweit die Rekordzahl von 93 Millionen Fahrzeugen ab. Experten rechnen damit, dass die Branche diesen Wert nicht mehr erreichen wird. Damit gibt es ein Kapazitätsthema. Das geht bei den Autoherstellern los, und wird sich durch die gesamte Zulieferkette ziehen. Zudem erfordert der Bau von E-Autos deutlich weniger Produktionsschritte.

Wann erreichen wir das Vor-Corona-Niveau?

Die meisten meinen damit nicht Februar 2020, sondern den blühenden Arbeitsmarkt, in dem wir weniger als 200 000 Arbeitslose hatten. Das ist in weiter Ferne.

Was ist aktuell Ihre größte Sorge?

Ich befürchte, dass es 2021 um ein Vielfaches schwieriger wird für Schulabgänger eine Ausbildung zu bekommen als 2020. Das treibt mich massiv um. Denn das ist die Zukunft der Gesellschaft, das sind die zukünftigen Fachkräfte, die die Wirtschaft brauchen wird.

Warum wird es schwieriger?

Viele Betriebe fragen sich: Kann und will ich mir eine Ausbildung in 2021 leisten? Auch Betriebe, die 2020 noch gesagt haben, sie bilden aus. Kommt es hier zu einem deutlichen Rückgang der Ausbildungsbereitschaft, wird es heikel.

Gibt es einen weiteren Grund?

Der nächste Abschlussjahrgang 2021 hat bislang aufgrund der Pandemie keine gute Berufsvorbereitung und keine Möglichkeit, Praktika zu absolvieren. Das erschwert die Berufswahl extrem – und wird sich bis in den Sommer 2021 nicht ändern. Dabei ist es enorm wichtig, dass junge Menschen in Betrieben ihre Wunschberufe erleben. Ich kann nachvollziehen, dass Betriebe wegen Kurzarbeit, Homeoffice und dem Infektionsrisiko nicht erpicht sind, Praktika anzubieten. Wie es uns in dieser Situation gelingt, die jungen Menschen auf einem deutlich engeren Ausbildungsmarkt unterzubringen, treibt mich derzeit am meisten um.

Erleben Sie das Thema Arbeitslosigkeit auch in Ihrem Bekanntenkreis?

Ja, klar. Ich lebe nicht in einer elitären Blase. Meine Bekannten und Freunde kommen aus vielen Einkommensklassen und Branchen. Da erlebe ich natürlich Arbeitslosigkeit. Ich finde offen gesagt die Angst der Menschen um ihren Arbeitsplatz und ihre mittelfristige Existenz persönlich noch bedrückender.

Wie sehr bewegt unsere Gesellschaft das Thema Arbeitslosigkeit?

Die echte Arbeitslosigkeit ist bislang noch relativ gering geblieben. Meiner Einschätzung nach bewegt das Thema unsere Gesellschaft noch nicht so stark.

Dank Kurzarbeit als Puffer?

Ja, wir hatten etwa 1 Million Menschen in Kurzarbeit. Ohne dieses Instrument hätten wir bei vorsichtigen Berechnungen bis zu 300 000 Kündigungen erlebt. Ich glaube, das hätte eine andere Reaktion in der Gesellschaft ausgelöst. Aber unser soziales Sicherungsnetz hat funktioniert. Das ist einer der Gründe, warum Deutschland besser durch die Krise kommt als andere Staaten.

Wer hat konkret seinen Job im Corona-Jahr verloren?

Am stärksten betroffen waren die Beschäftigten im Gastrogewerbe. Da ist der Zugang in die Arbeitslosigkeit mit 30 Prozent im Vergleich zu den Vorjahren mit Abstand am größten. Zudem waren Ältere ab 50 Jahren im verarbeitenden Gewerbe stark betroffen. Da stelle ich mir aber die Frage: Ist das wirklich Corona? Oder sind das die ersten Anzeichen des Strukturwandels, der da läuft?

Wer gehört noch zu den Verlierern?

Frauen sind stärker von der Arbeitslosigkeit betroffen als Männer. Auch die Beschäftigungssituation schwerbehinderter Menschen hat sich verschlechtert. In den vergangenen Jahren war es uns gelungen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen von fast 80 000 auf unter 50 000 zu drücken. Viele davon haben zwar gefördert von der Agentur, aber ansonsten ganz normale Arbeitsplätze gefunden. Da ist vieles durch Corona weggebrochen.

Welchen Unterschied sehen Sie im Vergleich zur Finanzkrise 2008/09?

Die Finanzkrise hat in der Industrie durchgeschlagen. Corona trifft alle Branchen und hat auch viele kleine Betriebe getroffen, die zuvor keine Erfahrung mit Kurzarbeit gemacht haben. Hinzu kommt die Intensität.

Was heißt das konkret?

2008/09 lag in der Spitze die Kurzarbeit in Baden-Württemberg bei knapp über 300 000 Arbeitnehmern. Diesmal waren es in der Spitze knapp unter einer Million. Deutlicher wird es noch auf Betriebsseite: 2008/09 haben in der Spitze bis zu 12 000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet, diesmal waren es mehr als 83 000 Betriebe. Wir dachten ja damals, höher geht es nicht mehr. 2020 hat uns dahingehend komplett Lügen gestraft.

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Erstellt:
09.01.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 52sec
zuletzt aktualisiert: 09.01.2021, 06:00 Uhr

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