Migration

Flüchtlingskrise an Grenze zu Polen

Seit Mitte Juli sind mehr als 2000 illegale Einwanderer über Belarus nach Deutschland gekommen. Die Erstaufnahmeeinrichtung in Brandenburg ist überfüllt.

08.10.2021

Von Dietrich Schröder

Mehrere Migranten sitzen auf einer Wiese vor Containern in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt. Der Zustrom aus Richtung Polen wächst. Foto: Patrick Pleul

Mehrere Migranten sitzen auf einer Wiese vor Containern in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (ZABH) des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt. Der Zustrom aus Richtung Polen wächst. Foto: Patrick Pleul

Die junge Frau aus Treplin, einem kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt (Oder), war überrascht: „Am helllichten Tag kamen mir zwei Gruppen fremdländischer Menschen auf einem Radweg entgegen. Die meisten von ihnen Männer, aber auch Frauen und Kinder.“ Seit Wochen kommt es entlang der Grenze zu Polen zu ähnlichen Vorfällen. In der Uckermark entdeckte die Bundespolizei am Montag nach einem Hinweis 41 Flüchtlinge, darunter neun Frauen und zwei Kinder, die in einem Wald übernachten wollten. Es waren Iraker, die angaben, dass Schleuser sie bis an die deutsch-polnische Grenze gebracht hätten. Auch der Zoll stieß bei Kontrollen an den Autobahnen mehrfach auf Kleintransporter, in denen Flüchtlinge zusammengepfercht waren. Lokführer mussten gefährliche Bremsmanöver durchführen, weil die Migranten selbst über Eisenbahnbrücken Oder und Neiße überwinden.

Obwohl sich dieses neue Migrations-Szenario seit Mitte August abspielt, hat die Berliner Politik davon bisher kaum Kenntnis genommen. Erst drei Tage vor der Bundestagswahl bestätigte ein Sprecher der Bundespolizei auf Nachfrage dieser Zeitung, dass man es seit Wochen mit einer „dynamischen Entwicklung“ zu tun habe. Vor der Wahl gab es jedoch keine Pressemitteilungen zu den Aufgriffen, offenbar um zu verhindern, dass die AfD in Ostdeutschland noch mehr punktet.

Politik reagiert verspätet

Am Mittwoch machte Brandenburgs CDU-Innenminister Michael Stübgen bei einem Besuch in der übervollen Landes-Aufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt deutlich, dass der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko die Flüchtlingswelle „künstlich produziert und perfide organisiert“ habe. Stübgen kritisierte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) dafür, dass dieser bisher nichts unternommen habe.

Genauso gut hätte Stübgen aber auch Horst Seehofer (CSU) angreifen können, denn dieser hatte der Bundespolizei einen Maulkorb verpasst. Erst Ende September, vier Tage nach der Wahl, hieß es offiziell, dass seit Mitte Juli mehr als 1500 Migranten, vorwiegend aus dem Irak und Syrien, aufgegriffen wurden. Inzwischen ist die Zahl bereits auf weit über 2000 angestiegen.

Dass diese Entwicklung mit einem Drama zusammenhängt, das sich seit Sommer weiter östlich an der polnisch-belarussischen Grenze abspielt, liegt auf der Hand. Seit August hat Polens national-konservative PiS-Regierung den Notstand über diese Grenzregion verkündet, einen Stacheldrahtzaun errichten lassen und den Grenzschutz mit Polizei und Armee verstärkt.

Perfektes Schleusersystem

Dass es dennoch so vielen gelingt, die Grenze zu überwinden und weiter in Richtung Deutschland zu gelangen, hängt offenbar mit einem perfekten Schleusersystem zusammen. „Die gesamte Tour aus dem Irak bis an die deutsch-polnische Grenze kostet um die 10?000 Euro“, verrät ein Mitarbeiter des polnischen Grenzschutzes. Bis Ende August flog die Iraqi Airways viermal wöchentlich von Bagdad nach Minsk. Inzwischen gibt es auf Druck der EU wöchentlich nur noch eine solche Maschine. Dafür landen auch Flieger aus Damaskus sowie aus Istanbul in Minsk. Der regimekritische Social-Media-Dienst Belsat.eu berichtete am Mittwoch, dass es in belarussischen Städten von arabischen Migranten nur so wimmele und dass von den Behörden Druck auf diese Menschen ausgeübt werde, so schnell wie möglich an die polnische oder litauische Grenze zu gelangen. Wer von den polnischen Behörden zurückgeschoben wird, werde auf belarussischer Seite gedrängt, sofort den nächsten Versuch zu unternehmen.

In Polen selbst betrachtete die geschwächte PiS-Partei das Problem zunächst als willkommenes Mittel, um Stärke zu zeigen. Dass man anders als Deutschland bei der Flüchtlingskrise 2015 die gesamte EU vor unerwünschten Einwanderern schütze, unter denen sich auch Terroristen befänden, wird von führenden Politikern immer wieder verkündet. Laut Umfragen werden die Maßnahmen von mehr als der Hälfte der Polen begrüßt.

Da mittlerweile Leichen von Migranten gefunden wurden, die wegen der eiskalten Nächte an der Grenze erfroren sind, ahnt jedoch selbst die PiS-Regierung, dass man es zunehmend mit einer humanitären Katastrophe zu tun bekommt. Neben Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International forderten auch Polens Bischöfe in dieser Woche dazu auf, die Menschen an der Grenze nicht erfrieren oder verhungern zu lassen, sondern ihnen humane Hilfe zu gewähren.

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Erstellt:
08.10.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 59sec
zuletzt aktualisiert: 08.10.2021, 06:00 Uhr

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