„Mehr zielgerichtete Grundlagenforschung“

Fachspezifischer Eröffnungsvortrag auf der Tübinger Morgenstelle über den Wandel der Ökotoxikologie

Bis zum morgigen Donnerstag gehen 277 Teilnehmer in Tübingen der Frage nach: „Wie relevant sind (Spuren-)Stoffe für Mensch und Umwelt?“ Am Montag eröffneten Toni Ratte und Inge Werner mit ihrem Vortrag zur Geschichte, den Risiken und der Zukunft der Ökotoxikologie die Fachtagung.

07.09.2016

Von Moritz Hagemann

Fachspezifischer Eröffnungsvortrag auf der Tübinger Morgenstelle über den Wandel der Ökotoxikologie

Tübingen. Immer wieder, sagte Tübingens Erste Bürgermeisterin Christine Arbogast, habe sie sich bei der Vorbereitung ihres Grußwortes gedacht: „Hä? Was machen die denn da?“ Komplex ist es gewiss, das Thema, welches 277 Teilnehmer seit Montagabend in Tübingen beschäftigt. Bei der siebten gemeinsamen Jahrestagung von Setac GLB (Society of Environmental Toxicology and Chemistry – German Language Branch) und dem Fachbereich Umweltchemie und Ökotoxikologie der GDCh (Gesellschaft Deutscher Chemiker).

Diese begann mit einem fachspezifischen Eröffnungsvortrag von Toni Ratte und Inge Werner zum Thema: „Ökotoxikologie im Wandel – Wohin geht die Reise?“ Die Ökotoxikologie ist dabei noch eine junge Wissenschaft, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts die zunehmende Verwendung und Verbreitung von Chemikalien Umweltproblemen und dem Aussterben von Arten fragend gegenüberstellte. Werner, die das Schweizerische Zentrum für Ökotoxikologie leitet, nannte den Großbrand im Industriegebiet „Schweizerhalle“ von 1986 als zentrales Ereignis. „Das hat mich geschockt“, sagte sie. In Folge dessen verendete die Aal-Population auf 400 Kilometer Länge im Rhein, dazu starben viele Tiere erst Monate nach dem Großbrand, was auch Fragen aufgeworfen hatte. „Das hat in allen Bereichen die Sinne geschärft“, sagte Ratte, der bis zu seinem Ruhestand 2011 am Aachener Institut für Umweltforschung arbeitete.

Ab den späten 80er Jahren seien dann die Biomarker, also messbare Parameter biologischer Prozesse, zur Forschung hinzukommen. Bei diesen Biomarkern zur Messung von subletalen Effekten im Organismus sei von Vorteil, dass sie besonders in wildlebenden Organismen analysiert werden können und potenzielle Schäden früh aufzeigen. Kritik an den Biomarkern gebe es aber auch. Werner zählt auf, dass die Analysemethode meist artenspezifisch sei und sich die Analyse der Daten schwierig gestalte. „Die ‚so what‘-Question kommt immer wieder“, sagte sie.

Auf die Frage, wohin die Reise der Ökotoxikologie nun tatsächlich gehen solle, gab Ratte zu verstehen, dass eine vernünftige Risikoabschätzung immer die Realität einbeziehen müsse. Und die sei von der Vielfalt an Stoffen, ökologischen Prinzipien sowie dem Raum- und Zeitgefüge abhängig. Ratte forderte: „Wir brauchen mehr zielgerichtete Grundlagenforschung, um den Datenhunger der Modelle zu stillen.“

Generell zählten beide einige Aspekte auf, die ihre Arbeit erschweren. „Es gibt viele Daten, aber es sind nur wenige zugänglich“, sagte Werner, deren Fachgebiet die Wirkung von Umweltschadstoffen auf Fische ist. Außerdem würden meist nicht die schwer messbaren und biologisch hoch-aktiven Substanzen gemessen werden können. Und: „Es fehlt an der Freiwilligenarbeit“, sagte Werner, die in diesem Zusammenhang eine Standardisierung von Testsystemen beklagte. „Und uns stehen halt auch nicht dieselben Mittel wie noch in den 80er Jahren zur Verfügung“, fügte Ratte hinzu.

Einigen Zuhörern im Plenum waren die Aussagen von Werner und Ratte jedoch zu kritisch. Eine Wortmeldung aus dem Publikum, dass die Ökotoxikologie auf einem guten Weg sei, quittierten viele Zuhörer mit einem anerkennenden Klopfen auf die Tische. Auch Rita Triebskorn vom Institut für Evolution und Ökologie der Tübinger Universität, fügte kurz, aber prägnant hinzu: „Ich seh’s genauso!“

Inge Werner

Inge Werner

Jahrestagung zum ersten Mal in Tübingen

Nach Braunschweig (2002), Aachen (2004), Frankfurt (2008), Dessau (2010), Leipzig (2012) und Gießen (2014) ist Tübingen die siebte Stadt, die eine gemeinsame Jahrestagung der Setac GLB und der GDCh ausrichten darf. Zwölf wissenschaftliche Sitzungen und 76 Vorträge stehen in dreineinhalb Tagen auf dem Programm, hinzu kommen auch Stadtführungen und Stocherkahnfahrten. „Ich bin sehr froh, dass wir das Wagnis eingegangen sind und die Tagung hier in Tübingen haben“, sagte Rita Triebskorn, die Verantwortliche vom Institut für Evolution und Ökologie der Tübinger Universität.

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Erstellt:
07.09.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 47sec
zuletzt aktualisiert: 07.09.2016, 01:00 Uhr

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IWerner 09.09.201609:29 Uhr

Korrektur:
Herr Hagemann hat unseren gemeinsamen Vortrag sehr gut zusammengefasst. Leider hat er aber eine meiner Forderungen an die Zukunft gerade umgekehrt wiedergegeben als sie gemeint war bzw. gesagt wurde. Ich habe verlangt, dass WENIGER Freiwilligenarbeit nötig sein sollte, um neue Biotestmethoden zu standardisieren, nicht - wie im Artikel geschrieben - mehr. Momentan stehen für diese Aktivitäten keine öffentlichen Mittel zur Verfügung. Die Mitglieder der Gremien, die diese Arbeiten vorantreiben werden nicht bezahlt (auch keine Reisekosten) und die Arbeiten für die notwendigen Ringtests werden von den teilnehmenden Gruppen und Instituten getragen. Und das in einer Zeit, in der immer weniger Grundfinanzierung für die Forschung bereitgestellt wird. Kein Wunder also, dass es 10-15 Jahre dauert, bis so ein Biotest standardisiert und damit für die Praxis nutzbar wird!
Freundliche Grüsse. Inge Werner

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