Tübingen · Arabisches Filmfestival

Es ist schwierig, in die Leinwand hineinzugehen

Der israelische Dokumentarfilmer und Videokünstler Avi Mograbi traut dem Kino kein weltveränderndes Potenzial mehr zu, aber eine Aktivierung schon.

16.10.2021

Von Dorothee Hermann

Mitgründer der israelischen Nichtregierungsorganisation „Breaking the Silence“: Festivalgast Avi Mograbi.Bild: Alexander Gonschior

Mitgründer der israelischen Nichtregierungsorganisation „Breaking the Silence“: Festivalgast Avi Mograbi.Bild: Alexander Gonschior

Ein harter Dokumentarfilm über israelische Militäreinsätze in den besetzten palästinensischen Gebieten erwies sich als Publikumshit des Arabischen Filmfestivals. Das Tübinger Kino Arsenal war am Mittwochabend nahezu ausverkauft. Auch zahlreiche jüngere Gäste wollten den Film „The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation“ (Die ersten 54 Jahre – ein Kurzhandbuch für militärische Besatzung) sehen und dem aus Tel Aviv angereisten Regisseur Avi Mograbi Fragen stellen.

„Sehr bewegend“ fand der 65-Jährige die Einladung nach Tübingen zum Arabischen Filmfestival. „Wer mein Werk kennt, weiß, dass ich vorgebe, ein arabischer Jude zu sein. Aber das glaubt mir nicht jeder.“ Dabei stimmt es zur Hälfte: Mograbis Vater stammt aus einer arabisch sprechenden jüdischen Familie aus Beirut. Seine Mutter floh in den 1930er Jahren aus Nazideutschland nach Palästina. So vermerkt es jeweils das englischsprachige Wikipedia. 1956 kam Mograbi in Tel Aviv zur Welt.

Er musste selbst zum israelischen Militär, allerdings nicht zu einer Kampfeinheit. Danach war er Reservist und sollte sich 1982 an der israelischen Invasion des Libanon beteiligen. Als er sich
aus Gewissensgründen weigerte, musste er deshalb ins Gefängnis.

„Der Film wird Sie nicht glücklich machen“ sagte Mograbi vorab. Israelische Soldaten berichten darin von Einsätzen in der Westbank und im Gazastreifen, in den 54 Jahren seit 1967, von Gewaltaktionen, Folter, willkürlichen Tötungen und Verhaftungen.

Manche der Sprecher sind vor Bücherregalen aufgenommen, die etwa ein Werk des französischen Soziologen Bourdieu oder einen Bildband über den berühmten russischen Tänzer Nurejew enthalten. Einer berichtete: „Man fesselt jemanden an einen Baum und lässt ihn für zehn bis zwölf Stunden in dieser Position. Und er beschwert sich nicht und bedankt sich vielleicht noch, dass man ihn nicht verletzt hat.“

Ein anderer sagte aus, dass er nicht nur mit Gewalt gegen den Vater einer palästinensischen Familie vorging, sondern auch gegen den Sohn, die Mutter, die Tochter. Einigen der Soldaten ist deutlich anzusehen, dass ihnen ihr damaliges Verhalten zu schaffen macht.

Im Film meldet sich zwischendurch immer wieder Mograbi selbst zu Wort und übernimmt die Rolle des Berichterstatters, Erklärers, Faktenlieferanten: „Ich habe mir erlaubt, mich bei Macchiavelli zu bedienen.“ Anhand von Landkarten und Siedlerzahlen erläutert er die Phasen, Ziele und eventuell verdeckten Ziele einer Besatzung. Für die Rolle des Experten wollte er ursprünglich jemandem aus „dem israelischen Establishment oder einen Historiker“ gewinnen. „Aber sie haben das alle zurückgewiesen.“

Mograbi war Mitgründer der israelischen Nichtregierungsorganisation „Breaking the Silence“ (das Schweigen brechen), die israelischen Militärs die Möglichkeit gibt, vertraulich von ihren Erfahrungen in den besetzten Gebieten zu berichten. Es können aktive oder ehemalige Armeeangehörige sowie Reservisten sein. Vor allem ihre Zeugenaussagen hat er in seiner Dokumentation verwendet. Die Interviews führten speziell geschulte Rechercheure, die für „Breaking the Silence“ jeweils mit Soldaten ihrer eigenen Generation sprechen, so der Regisseur.

Von seinem Film erhofft er sich einen Aktivierungsschub für eine „dezimierte Community“. Als er noch jung war, dachte er, das Kino könne die Welt verändern. Nun sei er alt, die Verhältnisse hätten sich gewandelt. „Offensichtlich ist es schwierig, in die Leinwand hineinzugehen und die Situation zu ändern.“

Das Kino hatte Mograbi, der später Philosophie und Kunst studierte, schon als Kind für sich entdeckt. Sein aus Damaskus eingewanderter Großvater, ein wohlhabender jüdischer Kaufmann, gründete 1930 in Tel Aviv das Mograbi Theatre, ein prachtvolles Art Deco Lichtspieltheater. Es wurde in den 1990er Jahren abgerissen.

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Erstellt:
16.10.2021, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 46sec
zuletzt aktualisiert: 16.10.2021, 01:00 Uhr

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