Zu den alten Quellen in den Magazinen

Erstmals gab es Einblicke in die Bestände der Tübinger Universität und Stadtverwaltung

Viereinhalb Regalkilometer umfasst das Tübinger Universitätsarchiv, vier Kilometer das Stadtarchiv. Am Samstag hatten beide Magazine geöffnet – erstmals am bundesweiten Archivtag.

07.03.2016

Von Matthias Reichert

Antje Zacharias, die stellvertretende Leiterin des Tübinger Stadtarchivs, liest bei einer Führung aus einem Stadtgerichtsprotokoll von 1688 vor. Bild: Sommer

Antje Zacharias, die stellvertretende Leiterin des Tübinger Stadtarchivs, liest bei einer Führung aus einem Stadtgerichtsprotokoll von 1688 vor. Bild: Sommer

Tübingen. Über knarzende Holztreppen geht es im Bonatzbau in den Keller, ins Magazin des Universitätsarchivs. Drinnen steht ein fahrbares Regallager: „Der Techniker hat gesagt, für sein Baujahr 1974 ist es gut in Schuss“, sagt Archivleiterin Regina Keyler, die seit neun Monaten im Amt ist, und lacht. In den Regalen stehen alte Bände und viele Schuber. Archivarin Susanne Rieß-Stumm zieht eine solche Schutz-Box heraus: Akten der universitären Disziplinarkommission von 1881. Ein halb beschriebener Bogen listet detailliert den Vorwurf des Hausfriedensbruchs gegen einen Verbindungsstudenten auf. „Geschichte ist nichts Fertiges. Es gibt das Rohmaterial, die Quellen, und jede Zeit kommt zu anderen Einschätzungen und stellt andere Fragen“, sagt Rieß-Stumm. Die Quellen liegen im Archiv der Uni: 4,7 laufende Kilometer, verteilt auf drei Standorte. Neben dem Keller des Bonatzbaus lagern Archivalien auf dem Sand und in der Neuen Aula.

Erstmals 1865 die Uni-Akten archiviert

Im Internet ist eine Bestands-Übersicht abrufbar. Detailliertere Auskünfte geben Findbücher im Büro des Archivs in der ersten Etage des Bonatzbaus. „Wir sind zuständig für alle Stellen und Einrichtungen an der Universität“, sagt Leiterin Keyler. Auch Unterlagen von Lehrenden und Studierenden werden archiviert. Man findet alte Dokumente aus dem Rektoramt, wie die Verwaltung früher hieß: Personalakten, Papiere zu Liegenschaften und Finanzen. 40 laufende Meter umfassen „Konsilien“, juristische Gutachten aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Damit können Historiker zu Sozialgeschichte oder Hexenprozessen recherchieren. Das Archiv ist fünf Stunden am Tag geöffnet. Dort bestellt man, die fünf Mitarbeiter/innen liefen die Dokumente dann in den Lesesaal.

Hauptamtlich besetzt ist das Uni-Archiv erst seit 1965 – es sollte damals die 500-Jahr-Feier anno 1977 vorbereiten. Doch bereits 1865 hatte der damalige Direktor der Unibibliothek, der Orientalist Rudolf von Roth, Archivalien zentral sammeln lassen: die Grundlage für medizinhistorische Bestände wie Verwaltungs- und Krankenakten der Unikliniken. Viel genutzt wird das „Binswanger-Archiv“ mit Akten der psychiatrischen Privatklinik „Bellevue“ in Kreuzlingen und dem Nachlass des Psychiaters Ludwig Binswanger samt umfangreicher Korrespondenz.

Gefragt sind auch die Archive einzelner Verbindungen. Der Nachlass des Tübinger Studentenhistorikers Georg Schmidgall dokumentiert studentische Lebensformen seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Und die Zeit der Studentenbewegung um 1968 ist mit einer umfassenden Flugblattsammlung vertreten. „Das kenne ich noch aus meiner Hiwi-Zeit – damals wurden wir losgeschickt, Flugblätter einzusammeln“, erinnert sich Keyler. In einer Vitrine liegen seltene Dokumente: Etwa die ersten Statuten der Universität vom 9. Oktober 1477, die erste Ordnung des Grafen Eberhard von 1481 und Universitätsmatrikel aus dem 16. Jahrhundert.

Der bundesweite Tag der Archive wird seit 15 Jahren vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare veranstaltet. Seit Einsturz des Kölner Stadtarchivs am 3. März 2009 ist er jeweils in der ersten Märzhälfte. Das Uni-Archiv hat sich zum ersten Mal beteiligt. Ebenso das Stadtarchiv, das in den vergangenen Jahren wegen der Rathaus-Sanierung nur schwer zugänglich war und wo die acht Mitarbeiter/innen unter arg beengten Verhältnissen schafften.

Stadtarchivar Udo Rauch warb für die Planungen am neuen Archiv-Standort Güterbahnhof. Für 2019/20 sei der Umzug angepeilt. „Für uns ein Riesenfortschritt“, so Rauch. Das neue Archiv sei klimatisiert und brandgeschützt, derzeit arbeiten die acht Archivarinnen und Archivare unter konservatorisch schlechten Bedingungen. Die Bestände sind auf neun Standorte in allen Stadtteilen verteilt: vor allem in der Südstadt, in Weilheim und in den Rathäusern.

Doch der Kern des Stadtarchivs lagert seit mehr als 550 Jahren im Rathaus am Marktplatz. Manche Dokumente wurden noch nie außer Haus gebracht. Insgesamt umfassen die Stadt-Archivalien rund vier Regal-Kilometer. Allein die Bibliothek enthält rund 230 000 Titel. Die umfangreiche zeitgeschichtliche Sammlung versammelt Presse-Artikel, Flugblätter, Handzettel. Es gibt zahllose historische Fotografien im Archiv. Allein 140 000, mittlerweile sämtlich digitalisierte Aufnahmen aus den 1950er- bis 70er-Jahren stammen von dem damaligen TAGBLATT-Fotografen Alfred Göhner.

Am späten Nachmittag öffnete auch das Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs in der Rümelinstraße, das rund 70 000 Zeitungsausschnitte zu frauenpolitischen und feministischen Themen archiviert hat.

Der Wandel der Mobilität

Zum Thema des diesjährigen Archivtags hielt Stadtarchivar Udo Rauch einen Bilder-Vortrag über „Mobilität im Wandel“ – von der ersten Tübinger Eisenbahn 1861 bis zur letzten Postkutsche der 1950er-Jahre. Beim Bau der Ammertalbahn 1909 musste ein Teil der Allee am Bahnhof gefällt werden. „Das war der große Aufreger der Zeit“ – der auch zur Gründung des Schwäbischen Heimatbundes führte. Zum Ausgleich entstand eine neue Allee, die heute noch zum Freibad führt. Rauch zeigte den ersten Tübinger Lastwagen von 1909, mit dem die Brauerei Marquardt Bier ausfuhr. Er thematisierte Mobilitätsdebatten der 1970er – bis zum ersten Tübinger Bürgerentscheid, der 1979 den Bau einer Nordtangente verhinderte.

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Erstellt:
07.03.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 22sec
zuletzt aktualisiert: 07.03.2016, 01:00 Uhr

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