Stuttgarts dunkelste Ecke

Ergenzinger Dealer ist nicht mehr wegen versuchten Mordes angeklagt

Die Neuauflage des Prozesses gegen eine Ergenzinger Haschisch-Dealer begann mit einer Überraschung. Der 22-Jährige, der bei seiner Festnahme einen Polizisten überfuhr und schwer verletzte, wird nun nicht mehr wegen versuchten Mordes angeklagt.

14.12.2015

Das Tübinger Landgericht.

Das Tübinger Landgericht.

Tübingen. Der Prozess musste neu aufgerollt werden, weil der Vorsitzende Richter schwer erkrankt war und das Verfahren nicht fortsetzen konnte. Die neue, dritte Strafkammer des Tübinger Landgerichts unter Vorsitz von Richter Ulrich Polachowski beschloss gestern überraschend, die ursprüngliche Anklage fallen zu lassen. Bestehen bleibt jedoch der schwer wiegende Vorwurf des Handels mit Marihuana, in den der seit Samstag 22-Jährige aus Ergenzingen mit zwei Komplizen groß einsteigen wollte.

Am 11. März dieses Jahres endete eine Beschaffungsfahrt auf der Hauptstätter Straße in Stuttgart in einer Katastrophe: Bei der Festnahme überfuhr der Angeklagte einen Polizisten des Mobilen Einsatzkommandos, das ihn festnehmen wollte, und verletzte ihn schwer. Er habe den Polizisten damals nicht als solchen erkannt, sondern für ein Mitglied einer rivalisierenden Drogenbande gehalten, verteidigte sich der 22-Jährige im ersten Prozess.

Mittlerweile ist ein zusätzliches Beweismittel aufgetaucht: ein Video vom Tatort. Der als Zeuge geladene Kripo-Beamte entschuldigte gestern seine Nachlässigkeit mit den Worten: „Da war ja alles dunkel drauf.“ Der Vorsitzende rüffelte ihn sanft: „Auch das ist eine Information.“ Auf dem Video ist auch das laute Autoradio des Tatfahrzeugs zu hören. Das gab dem Kfz-Sachverständigen Matthias Fischer die Gelegenheit, sein schon im ersten Prozess vorgestelltes Gutachten nachzujustieren.

Die Polizisten seien als solche nicht zu erkennen gewesen, führte Fischer aus, weder akustisch noch optisch. Sein Gutachten war ausschlaggebend für die Änderung der Anklage. Gehört wurden gestern sechs MEK-Beamte, die an der Festnahme des Drogendealers beteiligt waren.

Als erster sagte der schwer verletzte Beamte aus, der wieder im Dienst ist, aber noch an den Folgen des Einsatzes leidet. Eine Entschuldigung des Angeklagten wollte er bisher nicht annehmen, aber „ausgeschlossen ist das nicht“, sagte er. Der Angeklagte hat die moralische Verantwortung für das Geschehen übernommen. „Ich habe Alpträume und Schuldgefühle“, sagte er. Da wandte sich der verletzte Polizist zum ersten Mal an den Angeklagten und sagte: „Das ist jetzt unsere Geschichte.“

Trotz Bedenken stimmten Staatsanwalt Nicolaus Wegele und Nebenklagevertreter Markus Okolisan zu, dass der Vorwurf des versuchten Mordes nicht weiter verfolgt wird. Okolisan ging davon aus, dass dem Angeklagten klar sein musste, dass die Polizei vor ihm stand: „Drogenkriege auf offener Straße finden in Bogota statt, aber nicht in Stuttgart.“

Der Vorsitzende Richter nahm sich Zeit für eine Erklärung: „Ich glaube, die Öffentlichkeit hat das Recht, das die vorläufige Einstellung des Verfahrens so ordentlich begründet wird wie ein Freispruch“. Wer in einem Auto sitze und von einem Räuber mit der Pistole bedroht werde, der habe ein Notwehrrecht. „Aber er hat kein Notwehrrecht gegen die Polizei“, erläuterte der Richter. „Aber was ist wenn jemand irrt? Wir wollen nur Menschen unter Strafe stellen, die sich bewusst außerhalb der Rechtsordnung stellen.“

Anfangs, sagte der Richter, hätte er gedacht, die ganze Handlung habe in der hell erleuchteten Innenstadt in Stuttgart stattgefunden. Jetzt sage der Sachverständige: „Wir sind an einer der dunkelsten Stellen Stuttgarts.“ Dass der Zugriff der Polizei rechtmäßig erfolgt sei, war die feste Überzeugung des Richters. „Sie sind erwischt worden mit den Fingern in der Zuckerbüchse, mit vier Kilo High-End-Marihuana.“

Das Gericht hätte sich entscheiden müssen: „Wenn er sagt, er sei überfallen worden, ist das eine Schutzbehauptung? Es kam so authentisch rüber, dass wir es ihm auch nicht widerlegen können.“ Polachowski glaubte nicht, dass der verletzte Polizist die Entscheidung des Gerichts als gerecht empfindet. Andererseits sei es aber auch nicht gerechtfertigt, dass der Angeklagte mit dem Label „Herr S. wollte einen Polizisten umbringen“ durchs Leben laufe. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.fk

Der Schwurgerichtssaal im Tübinger Landgericht. Bild: Sommer

Der Schwurgerichtssaal im Tübinger Landgericht. Bild: Sommer

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Erstellt:
14.12.2015, 19:32 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 50sec
zuletzt aktualisiert: 14.12.2015, 19:32 Uhr

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