Festival

Eins sein mit den Wolken

Die wiederbelebten Weingartener Tage für Neue Musik porträtieren Toshio Hosokawa.

30.11.2021

Von Otto Paul Burkhardt

Weingarten. Ein kleines Wunder: Die einst berühmten Weingartener Tage für Neue Musik, 2017 nach dem Tod der Leiterin Rita Jans aufgegeben, erlebten jetzt ein kaum für möglich gehaltenes Comeback. Unter dem Namen „weit!“ fand das Festival erstmals nach längerer Pause wieder statt, live, ungestreamt und neu konzipiert von dem erfahrenen Szene-Experten Rolf W. Stoll. Und gleich vorweg – es ist ein famoses Update geworden: kluges Programm, hochkarätige Gäste, beachtliche Resonanz.

Stockhausen, Kagel, Gubaidulina, Rihm – sie alle waren schon hier. Der Grundgedanke, jedes Jahr eine andere Komponisten-Persönlichkeit zu einer Wochenendklausur mit Publikum einzuladen, bleibt. Beim wiederbelebten Festival stand nun der japanische Komponist Toshio Hosokawa im Zentrum. Eine Wahl, die den Blick weitet – über den eurozentrischen Horizont hinaus. Konzerte, Vorträge, Performances umkreisten das Werk Hosokawas, der auch biografische Einblicke gab und schilderte, wie seine Mutter in Hiroshima den Atombombenabwurf überlebte, zehn Kilometer entfernt vom Zentrum, in einer unterirdischen Fabrik.

Hosokawas Musik ist explizit zeitgenössisch, jedoch archaisch grundiert. Um sie zu komponieren, sagt er, habe er im Grunde „tausend Jahre gebraucht“. Geprägt ist sie von der Atemlehre des Zen-Buddhismus und von der japanischen Kalligraphie – gedehnte Klänge, die aus der Stille kommen, aufflackern und wieder verschwinden. Aus kaum hörbar leisen Tönen entwickeln sich geisterhaft schwirrende Triller und brodelnde Tremoli, bis sich alles wieder in hohen Flageoletts verflüchtigt – himmelwärts. Hosokawa sei ein ökologischer Komponist, heißt es oft. Festlegen darauf lässt er sich nicht. Doch viele seiner Werke handeln vom Streben nach dem Einssein mit der Natur, den Wolken, dem Meer. „Landscape V“ etwa – mit dem Münchener Kammerorchester unter Gabriel Venzago und Mayumi Miyata an der Mundorgel Shô – offenbart sich als atmendes Wechselspiel von Klangwolken.

Das Ich und das Universum

„Extasis“ wiederum – mit Irvine Arditti, Primarius des gleichnamigen Weltklassequartetts – erzählt von einer Schamanin des Shinto-Schreins, die ihr Ich verlässt und im Universum aufgeht. Hosokawas Musik berührt, weit weg von Fernost-Klischees, philosophische Chiffren wie Atem, Wind, Hauch, Seele, Geist. Musik als Einswerdung mit der Natur ist bei ihm auch Musik über etwas, „das wir verloren haben“. Das Festival „weit!“, so Stoll, geht weiter. 2022 soll Sarah Nemtsov, 2023 Rolf Riehm nach Weingarten kommen. Otto Paul Burkhardt

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Erstellt:
30.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 10sec
zuletzt aktualisiert: 30.11.2021, 06:00 Uhr

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