Gedenken: Die größten Stolpersteine sind im Rathaus

Eine Tübinger Initiative möchte in der Innenstadt an die vertriebenen und ermordeten Juden erinnern

Vor zwei Monaten vermeldete das TAGBLATT aus dem Tübinger Kulturausschuss: „Mehrheit für Stolpersteine möglich“. Denn im Gemeinderat zeichnet sich eine Mehrheit für diese Form des Gedenkens ab, die bislang an der Tübinger Verwaltungsspitze, zumindest teilweise, abgelehnt wird.

19.08.2017

Von Wilhelm Triebold

1933 beklebten Nazis das Textilgeschäft Degginger an der Ecke Holzmarkt/Neue Straße mit Hakenkreuzen. Nachdem vor zehn Jahren das Modehaus Haidt schloss, quartierte sich dort die Klamotten-Kette „New Yorker“ ein. Eine Initiative möchte nun mit einem Stolperstein an die jüdischen Vorbesitzer erinnern.Bild: Archiv

1933 beklebten Nazis das Textilgeschäft Degginger an der Ecke Holzmarkt/Neue Straße mit Hakenkreuzen. Nachdem vor zehn Jahren das Modehaus Haidt schloss, quartierte sich dort die Klamotten-Kette „New Yorker“ ein. Eine Initiative möchte nun mit einem Stolperstein an die jüdischen Vorbesitzer erinnern.Bild: Archiv

In der Innenstadt kursieren inzwischen Faltblätter der „Tübinger Stolperstein-Initiative“ um den Chemieprofessor Günter Häfelinger. Das langjährige Mitglied der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde hatte im Sommer vergangenen Jahres im „Förderverein für jüdische Kultur“ die Gründung einer Tübinger Stolperstein-Gruppe angeregt. Sie besteht mittlerweile aus 14 Personen und hat bereits mindestens 2500 Euro an Spendengeldern eingeworben.

Unterstützt wird sie sowohl vom Kirchengemeinderat der Bonhoeffer-Gemeinde als auch vom Engeren Rat der sieben Evangelischen Kirchen und von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Außerdem wurden 460 Unterschriften gesammelt.

„Ich bin nur sehr wenigen Menschen begegnet, die definitiv dagegen sind“, sagt Günter Häfelinger. Einer von ihnen ist Boris Palmer. Eines seiner Argumente war, berichtet Häfelinger von einem Treffen, der Künstler und Stolperstein-Verleger Gunter Demnik wolle nur „am Leid der Juden verdienen“, er vertrete ein rein kommerzielles Konzept. Häfelinger findet das abwegig: Bei 120 Euro pro Stein sei das „ein Totschlagargument“. Denn „überzogen ist das nicht“.

Trotz einer sich abzeichnenden Zustimmung im Gemeinderat gilt es offenbar, erst einmal einige politische Stolpersteine aus dem Weg zu räumen. Auch deshalb ein kurzer Überblick über den Stand der Dinge:

Die Stadtverwaltung sieht in dem seit vergangenem Jahr bestehenden Geschichtspfad eine ausreichende und „angemessene Form des Erinnerns“. Tübingen schlage „andere erinnerungskulturelle Wege ein“, zeigt man sich im Rathaus überzeugt, „die es erlauben, Zusammenhänge zu begreifen und Einzelschicksale in ihrer Vielfalt darzustellen“. Häfelinger lässt das nicht gelten: „Es gibt nur drei Stelen, auf denen Opfer benannt werden, ansonsten geht es nur um die Täter.“ Die Stolpersteine dokumentierten „individuelles Schicksal“.

Im Rathaus folgt man jener Position, wie sie neben der Geschichtswerkstatt die Münchner Israelitische Kultusgemeinde und ihre Präsidentin Charlotte Knobloch vertreten, die glaubt, die Namen von Holocaust-Opfern auf den Messingtafeln im Trottoirpflaster würden noch einmal mit Füßen getreten. Die Tübinger Kommission „Kultur des Erinnerns“ empfahl vor nunmehr acht Jahren ebenso, der aufkommenden Stolperstein-M(eth)ode nicht zu folgen.

Die „erheblichen Bedenken der Verwaltung beziehen sich auf die spärlichen Informationen, die ein solcher Stein mitteile, aber auch auf kritische Stimmen von Angehörigen ehemaliger Tübinger Juden. Außerdem wurde Demnig Ungenauigkeit bei der Wortwahl („Nazi-Terminologie“) vorgeworfen.

In der Verwaltungsvorlage wird betont, dass die Initiative nicht auf aktive Unterstützung aus dem Rathaus hoffen könne. Immerhin suchte man den Kontakt zu sieben Vertretern der betroffenen jüdischen Familien, von den zwei antworteten und grundsätzlich Zustimmung für das Tübinger Stolperstein-Projekt äußerten.

Inzwischen sind es sogar vier Familien, wie die Stolperstein-Freunde mitteilen. Für die Nachkommen von Josef Wochenmark stimmte, auch im Namen seines Bruders Bernhard, Jeffrey Marque ebenso zu wie Ruth Doctor aus der Familie Adolf Bernheim. Eine weitere zustimmende Antwort gibt es offenbar von Susan Loewenberg, der Enkelin von Leopold und Pauline Pollak. Und bereits vor drei Jahren gab die betagte, in Jerusalem lebende Michal Wager, geborene Liselotte Schäfer, eine positive Zusage: Sie würde sich über Stolpersteine für ihre Familie durchaus freuen.

Deshalb möchte die Stolperstein-Initiative, wenn Stadtverwaltung und Gemeinderatsmehrheit einverstanden sein sollten, den ersten Stolperstein in der Altstadt dann am Holzmarkt platzieren. Und zwar vor dem Gebäude, das den beiden miteinander verwandten jüdischen Familien Oppenheim und Schäfer gehörte. Sie betrieben dort das Textilgeschäft Degginger, das im Jahr 1939 endgültig dem NSDAP-Stadtrat Karl Haidt überschrieben wurde.

Die Tübinger Stolperstein-Initiative unterstreicht ihre Ambitionen mit einer Befragung unter Juden, die derzeit in Tübingen leben. Demnach sind sowohl David Holinstat vom jüdischen Verein Bustan Shalom als auch vier weitere (von acht) befragte Tübinger Juden sehr für die Verlegung, niemand sprach sich dagegen aus.

Tübingen soll sich in das „europaweite Stolperstein-Projekt als weltgrößtes dezentrales Mahnmal in 21 Ländern“ einreihen, fordern die Aktivisten. Bisher sind rund 61.000 Stolpersteine an 1700 Orten verlegt worden, monatlich kommen zahlreiche dazu. Gunter Demniks Unterstützergruppe hat mitgeteilt, dass neue Termine erst fürs nächste Jahr ausgemacht werden können.

Im Gemeinderat wird für die Zeit nach der Sommerpause ein interfraktioneller Antrag pro Stolpersteine angestrebt. Die Verwaltung hat in ihrer Vorlage für den Fall der Fälle schon mal ein paar Auflagen formuliert: das Verlegen von Stolpersteinen auf öffentlichem Grund bedürfe der Genehmigung durch die Stadt, mit der man sich dann rechtzeitig kurzschließen müsse, wenn das Vorhaben konkreter werden sollte. Es müsse auf alle Fälle die Verwendung von „Tätersprache“ ausgeschlossen werden. Und die Stolpersteine sollten sich auf alle Opfergruppen der NS-Zeit beziehen.

Und schließlich: Werden keine Angehörigen ermittelt, werden auch keine Stolpersteine verlegt. Auch müsse durch eine fachliche Expertise sichergestellt werden, dass es sich bei den zu gedenkenden Personen um Opfer oder Verfolgte des NS-Regimes handelt.

Es liegt jetzt „in den Händen unserer Stadträte“, hofft Häfelinger auf Unterstützung.

1933 beklebten Nazis das Textilgeschäft Degginger an der Ecke Holzmarkt/Neue Straße mit Hakenkreuzen. Nachdem vor zehn Jahren das Modehaus Haidt schloss, quartierte sich dort die Klamotten-Kette „New Yorker“ ein. Eine Initiative möchte nun mit einem Stolperstein an die jüdischen Vorbesitzer erinnern.Bild: Triebold

1933 beklebten Nazis das Textilgeschäft Degginger an der Ecke Holzmarkt/Neue Straße mit Hakenkreuzen. Nachdem vor zehn Jahren das Modehaus Haidt schloss, quartierte sich dort die Klamotten-Kette „New Yorker“ ein. Eine Initiative möchte nun mit einem Stolperstein an die jüdischen Vorbesitzer erinnern.Bild: Triebold

Stolperstein „Richard Gölz“ im Eingangsbereich der Stiftskirche. Bild: Sommer 02.11.2012

Stolperstein „Richard Gölz“ im Eingangsbereich der Stiftskirche. Bild: Sommer 02.11.2012

Stolpersteine in der Region: einer in Tübingens Altstadt

In Reutlingen gibt es vier Stolpersteine, die im vergangenen März in Erinnerung an die jüdische Familie Maier in der Kaiserstraße 17 verlegt wurden. Bereits vor drei Jahren wurden beim Rottenburger Eugen-Bolz-Gymnasium Stolpersteine für insgesamt zehn Deportierte versenkt. In Horb gibt es 48 Stolpersteine. In Tübingen sind es bislang 27 Steine, allesamt in der Südstadt – bis auf einen: der für Pfarrer Richard Gölz in der Stiftskirche (siehe Abbildung). Bis zu 80 Namen, die das Schicksal der verfolgten Tübinger Juden dokumentieren, könnten jetzt dazukommen.

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Erstellt:
19.08.2017, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 39sec
zuletzt aktualisiert: 19.08.2017, 01:00 Uhr

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