Tübingen · Sozialhilfe
Wie man beim Tübinger Arbeitslosentreff über „Vollsanktionen“ beim Bürgergeld denkt
Die Bundesregierung hat wieder Vollsanktionen beim Bürgergeld eingeführt. Der Tübinger Arbeitslosentreff sieht das kritisch.
Nur ein Jahr nach der Einführung des Bürgergeldes hat die Bundesregierung nun beschlossen, wieder Vollsanktionen für Leistungsbeziehende einzuführen, die Jobangebote wiederholt nicht annehmen. Vollsanktion, damit ist gemeint: eine komplette Streichung der Leistungen, abgesehen von Miete und Nebenkosten, für bis zu maximal zwei Monate.
Damit soll Geld gespart werden: Die Ampel plant, auf Bundesebene jährlich bis zu 150 Millionen Euro und weitere 20 Millionen Euro auf kommunaler Ebene einzusparen. Die Regelung soll auf zwei Jahre befristet sein und dann evaluiert werden.
Fabian Everding, Sozialberater beim Tübinger Arbeitslosentreff (TAT), glaubt, dass das in erster Linie eine „Rechenübung“ sei, wie er sagt: „Wenn man das ernst nimmt, dass nur da sanktioniert werden soll, wo jemand die Arbeit verweigert, dann gehe ich davon aus, dass das gar nicht so oft passieren wird.“ Deswegen seien die Ersparnisse in der genannten Höhe „auf jeden Fall nicht realistisch“, so Everding.
„Die überwiegende Zahl unserer Klienten, die Bürgergeld beziehen, sind Aufstocker, also gar keine Arbeitslosen“, sagt Everding. „Und unter denen, die wirklich länger arbeitslos sind, sind zum sehr großen Teil Leute, die persönliche Probleme haben und sich Arbeit gar nicht mehr zutrauen.“
Celina Streb, die ebenfalls als Sozialberaterin bei TAT arbeitet, sagt: „Oder Arbeitgeber trauen ihnen die Arbeit nicht mehr zu. Wenn jemand lange genug raus ist, dann schreien die Arbeitgeber nicht ‚hier‘!“ Zudem, fügt Streb hinzu, sei die Depressionsrate unter denen, die Bürgergeld beziehen, besonders hoch.
„Das Bürgergeld ist – anders als der Eindruck, den die Debatten erwecken – kein bedingungsloses Grundeinkommen“, sagt Everding. „Die Forderungen nach härteren Sanktionierungen kommen wahrscheinlich von Menschen, die sich das mit dem Bürgergeld ein bisschen zu schön vorstellen.“
Während bei Einführung des Bürgergelds von „Fördern statt fordern“ die Rede war, seien die nun geplanten Veränderungen ein Rückschritt, findet Streb. „Da ging es um Weiterqualifizierung und langfristige Vermittlung.“ Das sehe sie in dem neuen Gesetz nicht mehr. Sie fürchtet, dass Menschen abgestraft werden könnten, die in Jobs vermittelt werden sollen, die mit ihrer eigentlichen Profession gar nichts zu tun haben.
„Oft beziehen Leute Bürgergeld, die eigentlich eine komplett neue Ausbildung bräuchten, die aber auch schon zu alt für eine Ausbildung sind.“ Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn jemand durch Arbeitsunfälle nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf arbeiten könnte. Oder auch, wenn es ein Berufsfeld wegen Automatisierung gar nicht mehr gibt.
Unklar sei, wie die verschiedenen Jobcenter in Deutschland mit den neuen Regelungen umgehen werden: „Im Zweifel ist das Auslegungssache“, so Everding. „Die Jobcenter werden von der Bundesagentur und von den Landkreisen getragen, das heißt, die Aufsicht ist immer zur Hälfte vom Landkreis.“
Daher sei es „schon eine politische Frage, wie dort die Ansagen ans Jobcenter sind.“ Tübingen, so mutmaßt der Berater, sei „sicherlich lockerer im Umgang mit den Betroffenen als ein Jobcenter irgendwo im tiefsten Osten.“ Bisher sei das Thema Sanktion in Tübingen ein Thema, „das zumindest bei uns nicht aufschlägt“, sagt Everding.
Und in den Fällen, in denen es tatsächlich zur Vollsanktion kommt, könnte sich das stark auf die Betroffenen auswirken. Zwar seien Miete und Nebenkosten von der Streichung der Leistung ausgeschlossen – Strom allerdings muss aus dem Regelsatz bezahlt werden. „Daher ließe sich schon ein Fall vorstellen, wo jemand durch die Vollsanktion eine Stromsperre bekommt“, so Everding. „Das kann die Bewohnbarkeit stark einschränken, vor allem, falls Strom für Heizung oder die Steuerung einer Therme benötigt wird.“
Möglicherweise verfassungswidrig
Mit dem Bürgergeld kamen vor einem Jahr vergleichsweise moderate Sanktionierungsmöglichkeiten: Bei versäumten Terminen können die Jobcenter zehn Prozent der Leistungen streichen, bei absprachewidrig unterlassenen Bewerbungen oder Teilnahmen an Maßnahmen können es bis zu 30 Prozent sein. Da das Bürgergeld allerdings so berechnet ist, dass es gerade das Existenzminimum eines Menschen abdeckt, sehen Streb und Everding auch diese Sanktionierungen als problematisch an.
Die neu beschlossene Regelung könnte allerdings sogar verfassungswidrig sein: Unter Berufung auf Artikel 1 des Grundgesetzes, die unantastbare Menschenwürde, hatte das Bundesverfassungsgericht 2019 entschieden, dass das Existenzminimum in Deutschland zu jeder Zeit gesichert sein muss.“