Cold Case

Ein Mann, zwei Gesichter?

Als der Angeklagte im Fall Brigitta J. das erste Mal wegen der Tötung einer Frau vor Gericht steht, inszeniert er sich in einem TV-Bericht noch als Justizopfer.

22.04.2021

Von Dominique Leibbrand

2007 wurde Hartmut M. wegen der Tötung der Ladenbesitzerin Magdalene H. verurteilt. Foto: Daniel Karmann/dpa/lby

2007 wurde Hartmut M. wegen der Tötung der Ladenbesitzerin Magdalene H. verurteilt. Foto: Daniel Karmann/dpa/lby

Seit einem halben Jahr sitzt Hartmut M. am Stuttgarter Landgericht auf der Anklagebank, weil er vor mehr als 25 Jahren die Stuttgarter Künstlerin Brigitta J. ermordet haben soll. In dieser Zeit hat man den 70-Jährigen kaum ein Wort sprechen hören. Der ehemalige Topmanager schweigt beharrlich.

Als M. 2004 das erste Mal wegen der Tötung einer Frau angeklagt ist, ist das noch ganz anders. Im damaligen Verfahren, in dem dem gebürtigen Norddeutschen vorgeworfen wird, der Ladenbesitzerin Magdalene H. aus Obersontheim im Kreis Schwäbisch Hall im Jahr 2001 die Kehle durchgeschnitten zu haben, macht M. laut Prozessbeobachtern umfangreiche Angaben.

Mehr noch: Nach dem Urteil stellt er sich gemeinsam mit seiner zweiten Frau vor TV-Kameras und lässt sich im Nachgang für ein RTL-Format filmen. Dort inszeniert sich M. als Justizopfer. Anmoderiert wird die Sendung, die im Juli 2004 ausgestrahlt wird, so: „Fast ein Jahr saß der Familienvater in Haft. Unschuldig. Gefangen in einem Albtraum.“

Bizarre Szenen

Tatsächlich ist Hartmut M. vom Landgericht Bayreuth kurz zuvor zunächst freigesprochen worden. Was zum Zeitpunkt der RTL-Sendung allerdings nicht absehbar ist: 2007 wird der dreifache Vater in einem Revisionsverfahren inklusive neuer Erkenntnisse vom Landgericht Würzburg für schuldig befunden. Die Strafe von zwölfeinhalb Jahren umfasst auch einen spektakulären Erpressungsversuch: Unter dem Decknamen Garibaldi hatte M. im Herbst 2004 versucht, dem Shell-Konzern Millionen abzutrotzen.

In der RTL-Sendung indes gibt M. nur wenige Monate zuvor den liebenden Familienvater, der im großzügigen Garten des Einfamilienhauses die Spielgeräte seiner Kinder aufräumt und beklagt, dass er von der Polizei „als feiner Herr Finanzvorstand“ und als „Arsch“ beschimpft worden sei. Mehrfach bricht M. in Tränen aus. Aus heutiger Sicht bizarr: Im Abspann spielt der Unternehmer mit seiner Gattin lachend Schach. Heute weiß man, dass er ihr nach der Trennung Geld für gemeinsame Partien sowie Sex bezahlte. So besserte sich seine Ex ihr Haushaltskonto auf.

Ein Mann, zwei Gesichter, so scheint es. Auch von seiner ersten Frau wird er bei der Polizei zwar als fürsorglicher Familienvater beschrieben. Mittlerweile soll sie sich jedoch vor ihm fürchten – wohl angesichts seiner Taten. Im November 2004 wird er wegen der Shell-Erpressung verhaftet. Anfang 2005 hebt der Bundesgerichtshof das Urteil im Fall Magdalene H. wegen „fehlerhafter Beweiswürdigung“ auf.

Im Mai 2007 folgt schließlich die Verurteilung in Würzburg. Die 1. Strafkammer sieht es als erwiesen an, dass der Geschäftsmann die dreifache Mutter am 28.?September 2001 in einem Wald bei Thurnau getötet hat.

Magdalene H. war damals an der ungarisch-österreichischen Grenze in M.s Familienvan gestiegen. Wegen eines abgelaufenen Passes hatte sie einen geplanten Trip mit ihrem Landfrauenverein zum Plattensee nicht antreten können und nach einer Rückfahrgelegenheit gesucht. M., der seinerzeit ein Unternehmen in Ungarn betrieb, war auf der Fahrt nach Hause nahe Hof in Franken.

Kurz vor der deutsch-österreichischen Grenze machen die beiden an einer Tankstelle Rast. M. kauft drei Isolierbänder. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe er sich entschlossen, sich seiner Begleiterin zu bemächtigen, heißt es später im Urteil. Bei der Anschlussstelle Thurnau/Ost verlässt M. die Autobahn, fährt in ein Waldstück und tötet Magdalene H.

Die Polizei stellt später Reste des Isolierbandes an der Leiche sicher, in M.s Wagen werden zudem Blutspuren der Frau gefunden. Das Alibi – zum Tatzeitpunkt will der Geschäftsmann mit seiner Frau telefoniert haben – stellt sich im zweiten Verfahren als Lüge heraus. Für eine Verurteilung wegen Mordes reicht es aber nicht. Die Beweislage gibt nur Totschlag her.

In Stuttgart steht das Gericht nun wieder vor demselben Problem. Die Anklage geht davon aus, dass M. die ihm unbekannte Brigitta J. am Abend des 14. Juli 1995 in Sindelfingen heimtückisch ermordet hat. Seine DNA-Spuren wurden unter ihren Fingernägeln gefunden.

Die Nebenklage indes sieht sexuell-sadistische Motive – der Angeklagte konsumierte Pornos, in denen Frauen gefesselt und gequält werden. Ob das Gericht dieser Version folgen wird? Und was sagt der psychiatrische Sachverständige? Sein Gutachten wird für Anfang Mai erwartet.

Gutachten kommt wohl Anfang Mai

Das psychiatrische Gutachten des Tübinger Psychiaters Peter Winckler hätte eigentlich in dieser Woche in das Verfahren eingebracht werden sollen. Der Termin musste jedoch wegen Corona-Fällen in der JVA Stammheim, in der der Angeklagte einsitzt, und damit verbundener Quarantäne auf Anfang Mai verschoben werden.

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Erstellt:
22.04.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 12sec
zuletzt aktualisiert: 22.04.2021, 06:00 Uhr

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