Drei Sekunden Stille

Die Eltern der vier Kinder, die in Tübingen angefahren wurden, erzählen vom Unfall

Eine 75-Jährige fuhr am vergangenen Dienstag in der Tübinger Weststadt vier Kinder an. Sie sind mittlerweile wieder wohlauf – und bedanken sich bei ihren Rettern.

15.08.2018

Von Lorenzo Zimmer

In der Tübinger Uniklinik konnten sie schon wieder lachen. Von links: Beatrice Slesak (14), Nadine Slesak (7), Marc Slesak (12) und Noah Böhnke (10). „Das Lachen der Kinder sagt wohl mehr als viele Worte. Wir sind so dankbar, dass alles doch noch so gut ausgegangen ist“, schreibt Günther Slesak dem TAGBLATT über das Bild. Privatbild

In der Tübinger Uniklinik konnten sie schon wieder lachen. Von links: Beatrice Slesak (14), Nadine Slesak (7), Marc Slesak (12) und Noah Böhnke (10). „Das Lachen der Kinder sagt wohl mehr als viele Worte. Wir sind so dankbar, dass alles doch noch so gut ausgegangen ist“, schreibt Günther Slesak dem TAGBLATT über das Bild. Privatbild

Den absoluten Alptraum vieler Eltern hat Rose-Marie Slesak vor einer Woche erlebt. Als „eigenartige Stille“ beschreibt sie die drei Sekunden nach dem Aufprall am vergangenen Dienstagabend. Um 21.50 Uhr lagen drei ihrer vier Kinder nach einem heftigen Zusammenstoß mit dem Peugeot einer 75-Jährigen vor ihren Augen auf dem Asphalt der Westbahnhofstraße. Die Fahrerin hatte die rote Ampel auf Höhe des Rewe-Markts überfahren und vier Kinder frontal getroffen (wir berichteten).

Rose-Marie Slesak, Mutter von Nadine, Marc und Beatrice, hat sich gemeinsam mit ihrem Mann Günther und ihrem Bekannten Jörg Böhnke ans TAGBLATT gewandt. Böhnke ist der Vater von Noah, auch er wurde bei dem Unfall schwer verletzt: „Wir wollen uns bedanken. Bei den Rettungskräften, den Polizisten und Ärzten. Bei unseren Bekannten, die uns unterstützt haben, und allen, die an uns gedacht oder für uns gebetet haben“, sagt Günther Slesak. Vor allem deshalb suche er die Öffentlichkeit. Slesak war kurz vor dem Unfall in den nahegelegenen Supermarkt gegangen, um ein paar Lebensmittel zu besorgen, und kam erst kurz nach dem Unglück hinzu.

Die Familien Slesak und Böhnke kennen sich aus der Freien Christlichen Gemeinde. Deren Gemeindehaus liegt in der Westbahnhofstraße – von dort kamen die Familien am Tag des Unfalls: „Wir waren bei der Bibelstunde“, so Böhnke. Er war nur mit zwei seiner vier Kinder unterwegs, die anderen beiden waren zuhause bei seiner Frau: „Ich war dabei, mich mit meiner älteren Tochter und ihrer Freundin zu unterhalten.“ Alle gemeinsam standen sie an der Ampel. Als die auf Grün schaltete, „sind die Kids losgerannt“, so Böhnke. „Nach dem Motto: Wer ist als erstes drüben?“

Doch dort kam keines der Kinder an. „Es ging rasend schnell“, erinnert sich Böhnke. Sein Noah und die drei Kinder der Slesaks wurden vom Auto erfasst: „Ich habe das Auto kommen sehen und konnte nicht mal mehr schreien – so schnell ging es.“ Böhnke beschreibt seinen Zustand als „völligen Schock“. „Noah war kurz bewusstlos, und ich habe ihn dann aufgehoben und auf den Gehweg gelegt.“ Kurz darauf kamen schon Bewohner der angrenzenden Wohnhäuser ins Freie, um zu helfen. „Die haben Kühlpacks, Wasser und Handtücher gebracht“, erinnert sich Rose-Marie Slesak. Das Mitgefühl habe sie überwältigt.

Als Noah Böhnke zu sich kam und anfing zu schreien, beruhigte sich sein Vater etwas: „Auch wenn es herzzerreißend war. Es hieß zunächst mal: Er ist am Leben.“ Eine Polizei-Streife, die zufällig vorbeikam, half bei der Erstversorgung und alarmierte weitere Rettungskräfte. Aus dem Gemeindehaus kam ein Arzt hinzu, ein weiterer kam zufällig vorbei: „Er hat sofort geholfen“, berichtet Rose-Marie Slesak. Für Böhnke mehr als nur ein Zufall: „Aus meiner Sicht war das Gottes Fügung.“ Günther Slesak, der ebenfalls Arzt ist, kam aus dem Supermarkt und kümmerte sich sofort um seine jüngste Tochter Nadine: „Sie hat es am schlimmsten erwischt. Da hab ich auch ein bisschen Angst bekommen“, gibt der Allgemeinmediziner zu, der in der Tropenklinik arbeitet: „Sie war sehr ruhig und wurde zunehmend schläfrig. Ein schlechtes Zeichen.“

Dass ihr Schädel gebrochen ist, wusste der Vater zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch seine schlimmsten Befürchtungen einer schwereren Blutung im Gehirn bestätigte sich bei späteren Untersuchungen in der Uniklinik nicht. Auch Noah Böhnke trug mehrere Schädelfrakturen davon – von der Augenhöhle bis nach hinten zur Schläfe. Er muss mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe des Autos geprallt sein: „Die ist auch zu Bruch gegangen“, so Böhnke. Bei beiden Kindern mit Schädelfrakturen kam es in der folgenden Nacht zu leichten Hirnblutungen, aber: „Die Ärzte haben das beobachtet und wären sofort zur Operation bereit gewesen“, schildert Böhnke die schwierigen Stunden. Doch die akute Lebensgefahr blieb aus – heute sind alle vier Kinder bis auf einige äußerliche Verletzungen wohlauf.

Noch bevor sich die Familien auf dem Weg in die Klinik befanden, traf sich die Gemeinde, in der die Böhnkes und Slesaks aktiv sind, erneut zum Gebet: „Dadurch haben wir uns unheimlich aufgehoben gefühlt,“ sagt Böhnke. Auch das Mitgefühl der Feuerwehrleute, Notärzte, Rettungssanitäter, Polizisten und Klinik-Angestellten habe sie alle überwältigt, sagt Günter Slesak. Böhnke schließt sich an: „So eine Kooperation und Hilfsbereitschaft habe ich noch nie erlebt.“

Jeder kenne die Schauergeschichten von Gaffern: „Niemand hat gefilmt, niemand hat fotografiert. Alle haben nur geguckt, dass wir die Kids versorgen können“, so Böhnke. Wie schnell die Rettungskräfte vor Ort waren, kann er nicht genau einschätzen: „In einer solchen Situation ist jede Sekunde lang, aber ich glaube es ging wirklich schnell.“ Die Leitende Notärztin Lisa Federle bestätigt auf TAGBLATT-Nachfrage: „Länger als fünf Minuten hat es nicht gedauert.“

Alle Kinder haben Eis und Pizza als Genesungsgeschenk von ihren Eltern bekommen. Denn Marc Slesak hätte auf die Nacht in der Klinik lieber verzichtet. Auf die Frage, ob er nun Angst vor Ampeln habe, schüttelt er grinsend den Kopf. Günther Slesak: „Wir haben den Kindern jetzt nochmal eingetrichtert: Egal, ob grün ist oder nicht, schaut nochmal rechts und schaut nochmal links.“

Die Unfallursache bleibt weiterhin unklar

Warum die 75-jährige Peugeot-Fahrerin die rote Ampel auf Höhe des Rewe-Markts in der Tübinger Weststadt überfuhr, ist weiterhin ungeklärt. Polizei-Sprecherin Andrea Kopp teilte dem TAGBLATT mit: „Es laufen noch Untersuchungen.“ Sowohl das Gutachten des Unfallsachverständigen, der noch am gleichen Tag an der Unfallstelle seine Arbeit aufnahm, als auch die Blutuntersuchung der Autofahrerin dauern noch einige Zeit: „Wir haben keine Anhaltspunkte für den Konsum von Alkohol“, so die Polizei weiter. Ein möglicher Einfluss von Medikamenten werde noch überprüft: „Das ist eine reine Vermutung, wir sind da völlig im Bereich der Spekulationen.“ Wie die Fahrerin die größere Personengruppe am Straßenrand auf Höhe der Ampel übersehen konnte, sei aus Sicht des zuständigen Beamten „eine durchaus berechtigte Frage“. Zu schnell sei die Frau vermutlich nicht unterwegs gewesen: „Sie kam rund 20 Meter weiter zum Stehen, da kann man sich ausrechnen, dass sie nicht so schnell gewesen sein kann.“ Nach Berichten der Beamten vor Ort sei auch sie völlig geschockt gewesen: „Sie hat sich sofort und am nächsten Tag nochmal nach den Kindern erkundigt.“ Auch für die Beamten seien das bange Stunden gewesen: „Natürlich ist es auch für uns wichtig zu wissen, dass es so glimpflich ausgegangen ist und die Kinder wohl keine Schäden davontragen werden.“

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Erstellt:
15.08.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 17sec
zuletzt aktualisiert: 15.08.2018, 01:00 Uhr

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