Tübingen · Film

Dokumentation „Vivas“ über Frauenmorde: Der Staat duldet die Gewalt

Die Dokumentation „Vivas“ über Frauenmorde in Lateinamerika und feministische Proteste hat beim SWR-Doku-Festival Premiere.

23.06.2022

Von Dorothee Hermann

Das Tattoo „Renata“ auf dem Arm von Karen ist der Name ihrer ermordeten Tochter.Bilder: Angélica Aguilar

Das Tattoo „Renata“ auf dem Arm von Karen ist der Name ihrer ermordeten Tochter.Bilder: Angélica Aguilar

Die Masterarbeit von Angélica Aguilar bei den Tübinger Medienwissenschaftlern ist ein aufrüttelnder Dokumentarfilm. In „Vivas“ wollte die 33-Jährige eigentlich über die feministische Bewegung in Lateinamerika berichten, die in den letzten Jahren stark angewachsen ist. Am Weltfrauentag 2020 gingen allein in Mexiko Hunderttausende gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf die Straße. Sie protestierten gegen Vergewaltigung und machistische Gewalt, forderten ein Ende der geschlechtsspezifischen Gewalt und der Straffreiheit für Mörder.

Man hört die Frauen skandieren: „Der Staat ist ein Unterdrücker und Vergewaltiger.“ Ihre Proteste sind nicht gern gesehen: „Sie zeigen, dass der Staat seine Arbeit nicht macht“, so Aguilar. „Der Staat ist verantwortlich für Gerechtigkeit, und er ist verantwortlich für die Verhältnisse, die Gewalt.“ Sie konzentrierte sich auf ihr Geburtsland Mexiko, weil es infolge der Pandemie schwierig war, zu reisen.

Buch und Regie, Dreharbeiten und Finanzierung stemmte sie selbst. Das Equipment konnte sie beim Zentrum für Medienkompetenz der Uni Tübingen leihen. Nun kommt ihr Film in der Reihe „Newcomer und Grenzgänger/innen“ beim SWR-Doku-Festival in Stuttgart heraus.

Im Dezember 2020 begann sie zu drehen. Recherchiert hatte sie schon länger, unter anderem für eine Sendung im Freien Radio für Stuttgart, wo sie Direktorin und Moderatorin des spanischsprachigen Radio Hispanohablante ist.

Im Film ist zu sehen, mit wie viel Power die Frauen losgehen. „Es ist großartig, wie entschlossen und wie vereint die Frauen sind“, sagte Aguilar dem TAGBLATT. Doch Präsident Manuel López Obrador diffamierte die Protestierenden live im Fernsehen: Es gebe Provokationen, angeblich Gewalt bei den Protesten und Leute, die sich einschleusten. Gleichzeitig wurden Gelder für Frauen in Gewaltsituationen gekürzt, sagte Aguilar.

Angélica Aguilar

Angélica Aguilar

Bei einer Kundgebung nennt eine schier endlose Stellwand die Namen von Opfern. „Es gibt einen Missbrauch des Staates. Das wir ertragen wir seit 30 Jahren“, sagen im Film schwarzgekleidete Feministinnen, die staatlicherseits kriminalisiert werden. Sie versuchen, Polizei und Sicherheitskräfte daran zu hindern, repressiv gegen Demonstrantinnen vorzugehen.

Fast 60 000 Frauen wurden in Mexiko in den vergangenen 30 Jahren ermordet, so die offiziellen Zahlen. Tatsächlich waren es viel mehr. Die Täter bleiben vielfach straffrei. Nach Brasilien ist Mexiko das am meisten betroffene Land in Lateinamerika: Jeden Tag werden dort elf Frauen ermordet.

Der Film zeigt zwei erschütternde Fälle: Die zwölfjährige Fátima wurde 2015 von drei Nachbarn abgefangen, vergewaltigt und ermordet. „Ich werde weiterkämpfen“, sagt ihre Mutter Lorena im Film. „Kein Mädchen hat es verdient, auf so grausame Weise zu sterben.“ Als Aguilar Lorena in der Stadt Toluca im Bundesstaat Estado de México zum Denkmal für Fatima beim Rathaus begleitete, kam aus dem Gebäude ein Mann und begann ungefragt, die beiden Frauen zu filmen. Das Nummernschild von Aguilars Auto fotografierte er ebenfalls. Sie fand das sehr einschüchternd. Lorena hingegen sagte, sie sei das gewöhnt. Sie ist überzeugt, dass alle Frauen Feministinnen sein sollten, sagt sie im Film. „Denn mit vereinten Kräften können wir etwas erreichen.“ Die zweite Protagonistin ist Karen. Ihre Tochter Renata war 13 Jahre alt, als sie im November 2020 vom Ex-Partner ihrer Mutter in ihrem eigenen Zuhause umgebracht wurde. Seither sind beide Mütter zu Aktivistinnen geworden, unterstützen einander und andere Betroffene und kämpfen gegen Frauenmorde.

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Erstellt:
23.06.2022, 18:30 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 38sec
zuletzt aktualisiert: 23.06.2022, 18:30 Uhr

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