Klima
Tübinger Aktivisten bei Lützerath: „Die Welt geht down“
Mehr als 200 Aktivistinnen und Aktivisten aus Tübingen demonstrierten am Samstag bei Lützerath, damit der Energiekonzern RWE die Braunkohle unter dem Dorf nicht abbaggert.
Auch Benedikt und Tabea, die sich bei Fridays for Future Tübingen engagieren, fahren mit, um vor Ort gegen das Abbaggern des Dorfes und der Braunkohle zu demonstrieren. „Es ist ganz klar: Wenn die Kohle unter Lützerath abgebaggert wird, halten wir nicht die 1,5 Grad ein“, sagt der 17-Jährige. „Wir hatten noch nie eine so aktuelle Situation, in der sich entscheidet: Schafft es Deutschland, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten oder nicht?“ Damit meint er das Pariser Klimaabkommen, das 2015 vereinbart wurde, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. „Es geht um meine eigene Zukunft, aber auch um die meiner Kinder. Wenn mich später meine Kinder fragen: Papa, wie war das damals, als Deutschland das 1,5-Grad-Ziel gerissen hat?, will ich sagen: Ich war dabei, das Ziel zu verteidigen und dafür zu kämpfen.“
Wie ernst es ihm ist, zeigt sein Aufenthalt in Lützerath letzte Woche, als er von Montag bis Mittwoch dort war – und dafür in der Schule unentschuldigt fehlte. „Ich bin mit der Erkenntnis nach Lützerath gefahren, dass ich wegen Fehlstunden eventuell nicht zum Abitur zugelassen werde.“ Erst ein paar Tage später erfuhr er, dass es eher Panikmache als wirkliche Drohung war. Die Räumung erlebte er nicht mehr, da er zurück nach Tübingen wollte, um sich am Freitag als Vorstand im Jugendgemeinderat zu verabschieden.
Enttäuscht von der Politik
Auch für Tabea ist der heutige Tag sehr wichtig: „Unter Lützerath liegen 280 Millionen Tonnen Braunkohle“, sagt die Biochemie-Studentin. „Beim Tagebau Garzweiler II dürfte man aber nur noch 47 Millionen Tonnen Kohle abbaggern, um die Klimaziele zu erreichen. Das belegen Studien, die Kohlebudgets berechnen.“ Das Ziel, die 1,5 Grad, um die es bei der Demo geht, schreibt sie während der Fahrt auf ein Plakat, daneben malt sie mit gelber Acrylfarbe ein X. Das Symbol des Protests um Lützerath tragen heute viele Demonstrierende, manche wie Tabea auf Plakaten, andere auf Jacken, Rucksäcken und Trinkflaschen.
Benedikt malt ebenfalls noch an seinem Plakat, auf dem steht: „Mona, Robert, ihr habt’s verkackt und alle wissen’s“. Damit prangert er den Deal an, den Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Mona Neubaur und RWE im Herbst aushandelten und in dem das Abbaggern Lützeraths festgeschrieben ist. Habeck war für den 17-Jährigen, der selbst Mitglied der Grünen ist, mal ein Hoffnungsträger. Das ist vorbei: „Ich bin enttäuscht, weil er nun einer der vielen Politiker ist, die 1,5 Grad versprechen, aber nicht halten.“ Der Deal mit RWE ist jedoch schon beschlossen, warum jetzt noch dagegen demonstrieren? „Das ist gelebte Demokratie“, sagt Tabea. „Im Hinblick auf den Klimaschutz ist die Entscheidung nicht tragbar. Deswegen protestieren wir friedlich dagegen. Ich würde mir so sehr wünschen, dass die Bundesregierung sich nach der Demo heute zusammensetzt und mit der Räumung pausiert, um eine Lösung zu überlegen, die mit den Klimazielen vereinbar ist.“
An der Abbruchkante
Um zwölf Uhr sagt Tabea: „Leute, jetzt beginnt die Demo.“ Doch der Tübinger Bus steckt im Stau, es geht sehr langsam voran. Es sind nur noch wenige Kilometer bis nach Keyenberg. Manche Demonstrierende aus anderen Bussen steigen aus und laufen die restlichen Kilometer bis zur Demo. Auch die Tübinger verlassen bald an einem Kreisverkehr den Bus und schließen sich dem Protestzug an. Tabea macht das Megafon an und ruft: „Lützi!“, die Menschen um sie herum rufen: „Bleibt!“
Immer wieder fängt irgendwer der Demonstrierenden mit einem Protestruf an, die Masse steigt mit ein. Oft ist es Tabea, die alle paar Minuten ihr Megafon anmacht und sichtbar Gefallen daran hat, ein Protestgesang nach dem nächsten anzustimmen. Ganz langsam und immer wieder mit Stopps ziehen die Demonstrierenden durch Keyenberg, einem der fünf Orte, die nun doch nicht den Kohle-Baggern zum Opfer fallen, deren einstige Bewohner aber schon längst umgesiedelt wurden. Die Masse schiebt sich an der verlassenen Metzgerei „Wurst Wimmers“ vorbei, dann an der geschlossenen Gaststätte „Keyenberger Hof“ und an der Kirche, deren Uhr um zwölf nach zwölf stehen geblieben ist. Zufall? Jedenfalls ein passendes Symbol für den heutigen Tag.
Wohin als Nächstes? Zur Bühne, wo Greta Thunberg irgendwann auftreten wird? Richtung Abbruchkante? „Ich will ganz an die Kohlegrube“, sagt Tabea. Auch die anderen wollen dorthin. Sie werden ein bisschen langsamer, als sie auf die lange Reihe aus Polizeiwagen zulaufen. Polizisten stehen daneben und verfolgen die Tübinger Gruppe mit ihren Blicken, während die jungen Leute an ihnen vorbei Richtung Tagebau laufen. Dann stehen sie an der Abbruchkante und schauen in das riesige Loch in der Landschaft vor ihnen.
Greta Thunberg auf der Bühne
Während sie ein Gruppenfoto machen, wird Greta Thunberg als Rednerin angekündigt. Also ab zur Bühne, die etwa 500 Meter entfernt ist. „Die Tatsache, dass ihr alle hier seid, ist ein Zeichen der Hoffnung“, ruft die schwedische Klimaaktivistin. Tabeas Gruppe watet durch den Schlamm Richtung Bühne. „Die Kohle ist noch im Boden. Wir sind noch hier. Und Lützerath auch. Solange die Kohle im Boden ist, ist der Kampf noch nicht vorbei.“ Die Worte schallen zu der Gruppe übers Feld herüber, während sie sich immer noch im Wind und Regen zur Bühne kämpfen. Dann ist Greta Thunberg auch schon wieder fertig. Die Masse, die der 20-Jährigen eben noch zuhörte, kommt Tabea und ihren Freunden nun entgegen. Tausende strömen zur Abbruchkante. Um dorthin zu kommen, mühen sich viele Demonstrierende über einen kleinen Erdwall. Obwohl er nur einen Meter hoch ist, rutschen viele aus und landen im Schlamm. Denn es regnet immer noch.
Von den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Polizisten an der Absperrung zu Lützerath bekommen Tabea und Benedikt nichts mehr mit. Sie müssen zurück zum Bus, der in ein paar Kilometern Entfernung parkt und den sie erstmal finden müssen. Denn das Netz ist wegen der vielen Menschen so überlastet, dass man nicht telefonieren kann. Auch das Internet funktioniert nicht. Also fragen sie sich durch und erreichen nachmittags gerade so den Bus zurück. „Schon ein blödes Gefühl, jetzt nach Hause zu fahren und zu wissen, die Welt geht down“, sagt einer der Demonstranten auf der Rückfahrt. Vier Stunden war die Gruppe bei Lützerath.
Für andere geht der Kampf weiter: Aus Tabeas Bezugsgruppe fahren zwei Freundinnen nicht zurück nach Tübingen, sondern zelten in Keyenberg. Sie wollen mehr tun als nur einen Tag zu demonstrieren – und helfen nun im Protestcamp mit.