Stuttgart 21

Volksentscheid vor zehn Jahren: die Weichenstellung

Der Volksentscheid vor zehn Jahren hat den Konflikt entschärft und das ins Schlingern geratene Milliardenprojekt wieder in Fahrt gebracht.

27.11.2021

Von Roland Muschel

Blick von oben auf die Stuttgart-21-Großbaustelle. Ende 2025 sollen die Züge im Tiefbahnhof einfahren.  Foto: Werner Kuhnle

Blick von oben auf die Stuttgart-21-Großbaustelle. Ende 2025 sollen die Züge im Tiefbahnhof einfahren. Foto: Werner Kuhnle

Stuttgart. Als Nils Schmid Anfang September 2010 erstmals öffentlich den Vorschlag machte, den Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 mit Hilfe eines landesweiten Volksentscheids zu klären, konnte sich der SPD-Landeschef nicht gleich sicher sein: Hatte er nun den erhofften Coup gelandet – oder nur einen Flop produziert? Denn die meisten Kommentatoren traten den Vorstoß zunächst wortgewaltig in die Tonne.

Auch die ersten Reaktionen der grünen S-21-Gegner fielen kritisch aus, für die Ökopartei war die Opposition gegen den Tiefbahnhof ein Wahlkampfschlager. Immerhin: In einer Sondersitzung trug die SPD-Landtagsfraktion, angeführt vom glühenden S-21-Fan Claus Schmiedel, die Idee mit.

Schmid wollte im Herbst 2021 gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Delegierung der Entscheidung an die Bürger sollte den hochemotionalen Streit in der Bevölkerung befrieden – aber auch die in der Frage gespaltene SPD. „Ich war immer rational für Stuttgart 21. Dass es so polarisiert, hat mich aber sehr beunruhigt“, erklärt Schmid, inzwischen Bundestagsabgeordneter, seine Motive heute. Die SPD war mit einem Mal bei einem entscheidenden landespolitischen Thema wieder sprechfähig – und hatte ein halbes Jahr vor der Landtagswahl im März 2011 strategisch die Weichen fürs spätere Bündnis mit den Grünen und die Ablösung der eng mit dem S-21-Projekt verwobenen Dauerregierungspartei CDU gestellt.

Als wenige Wochen nach Platzierung des Vorschlags am 30. September 2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, der Konflikt im Stuttgarter Schlossgarten mit Polizeigewalt und Hunderten von Verletzten eskalierte, sah die ganze Welt, dass es so nicht weitergehen konnte. CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus, der zuvor noch getönt hatte, er werde den „Fehdehandschuh“ der S-21-Gegner aufnehmen, änderte Sprache und Strategie und installierte eine Schlichtung. Retten konnte ihn das aber nicht mehr, der Streit um S21 war ein Faktor, der zum Regierungswechsel beitrug. Und der Vorschlag Volksentscheid war der Kitt, der die grünen Gegner und die Befürworter an der SPD-Spitze in dieser Konfliktfrage zusammenhielt und Eingang in den Koalitionsvertrag fand. Er erlaubte auch, dass Mitglieder der einen Regierungspartei vor der Abstimmung am 27. November 2011 öffentlich gegen das Projekt zu Felde ziehen konnten – und die anderen dafür trommeln durften.

Die Volksabstimmung selbst entschieden die Befürworter des damals noch auf 4,5 Milliarden Euro taxierten Projekts (inzwischen werden 8,2 Milliarden Euro angegeben) für sich. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) versprach sogleich, das Votum „ohne Wenn und Aber“ zu akzeptieren, die SPD vermied lautes Triumphgeheul.

In einer Langzeitstudie der Universität Mannheim hat der Politologe Thorsten Faas, inzwischen Professor an der Freien Universität Berlin, über Jahre die Einstellung der Baden-Württemberger zum Instrument Volksentscheid und zur Akzeptanz des S21-Votums untersucht. Sein Fazit heute: „Die Volksabstimmung hat nicht dazu geführt, dass die inhaltlichen Differenzen plötzlich weg waren. Aber sie hat als Verfahren doch dazu geführt, den Konflikt zu befrieden und Akzeptanz für diesen Beschluss zu schaffen.“ Ihren Frieden mit dem Volksentscheid und seinen Folgen aber haben auch zehn Jahre danach nicht alle gemacht. „Niemand hat das Recht, sich auf die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zu berufen, die sich am 27. November zum 10. Mal jährt – heute noch weniger als damals“, befindet das Aktionsbündnis gegen S21.

Ein Bericht der „Financial Times“ von dieser Woche, wonach unter Verweis auf zwei anonyme Hinweisgeber ein Teil der Kostensteigerungen bei dem derzeit auf 8,2 Milliarden Euro taxierten Projekt durch „eklatantes Missmanagement“ und Korruption entstanden sein soll, ist Wasser auf die Mühlen der Gegner.

Die Bahn indes bestreitet die aktuellen Vorhalte vehement. Die Zeit arbeitet ohnehin für das Projekt, die markanten Kelchstützen für den neuen Tiefbahnhof prägen nun die Baustelle; jüngst sind die ersten Schienen für den neuen Bahnknoten geliefert worden. Stuttgart 21 nimmt zehn Jahre nach dem Volksentscheid Gestalt an – langsam, aber sicher.

Mehrheit für Weiterbau

Bei der Volksabstimmung am 27. November 2011 votierten 58,9 Prozent der abstimmenden Baden-Württemberger gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung; 41,1 Prozent stimmten für den Ausstieg. In der Landeshauptstadt selbst fiel die Mehrheit knapper, mit 52,9 Prozent zu 47,1 Prozent aber ebenfalls zugunsten von Stuttgart 21 aus. Wie sehr das damals noch mit 4,5 Milliarden Euro Gesamtkosten angegebene Projekt, das inzwischen mit 8,2 Milliarden Euro taxiert wird, die Bevölkerung im Südwesten bewegte, zeigt die Abstimmungsbeteiligung: Sie lag mit 48,3 Prozent überraschend hoch. rol

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Erstellt:
27.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 13sec
zuletzt aktualisiert: 27.11.2021, 06:00 Uhr

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