Betroffene erzählen
Tübinger Obdachlose – die Vergessenen auf dem Wohnungsmarkt
Die angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt trifft die Schwächsten am stärksten. Wohnungslose, die in Tübingen in der Notübernachtung schlafen, müssen dort oft monatelang bleiben. Zwei Betroffene erzählen.
Krüger ist seit dem 21. September 2021 wohnungslos. Wegen seiner psychischen Erkrankung, wie er selbst sagt. Bis kurz vor Weihnachten war er im Krankenhaus, danach in einer Notunterkunft in Reutlingen, wo er auch schnell ein festes Zimmer bekam. Da seine sozialen Anlaufstellen, wie der Kontaktladen „Janus“, eine niederschwelligen Einrichtung für Drogenabhängige und Substituierende, in Tübingen sind, zog es ihn hierher. „Die Tickets waren einfach zu teuer, ich musste oft schwarzfahren“, sagt er. Von Februar bis Mai schlief er in der Notübernachtung.
Wohnen kann und soll er dort aber nicht. Seine Sachen konnte er nie in der Notschlafstelle lassen, zwei Taschen mit Habseligkeiten lagerte Krüger wochenlang im Kontaktladen. „Wenn ich was in der Notunterkunft lasse, muss ich davon ausgehen, dass das wegkommt“, sagt er. Oft komme das Ordnungsamt zwischen halb neun abends und Mitternacht vorbei, berichtet er, wenn die Männer in der Notunterkunft schon schlafen. „Die stehen am Bett, leuchten uns an und wollen meinen Ausweis sehen.“ Die Kontrollen des Ordnungsamts sollen sicherstellen, dass sich niemand in den Notübernachtungen aufhält, der dort nicht hingehört, so der stellvertretende Leiter der Abteilung Ordnung und Gewerbe, Rainer Letsche. Das sei schon mehrfach vorgekommen. „Nicht zuletzt dienen diese Kontrollen auch der Sicherheit der Übernachtenden selbst.“
Zum Zeitpunkt seines Gesprächs mit dem TAGBLATT war Krüger alleine in der Notschlafstelle, die anderen beiden Betten waren nicht besetzt: „Einer wurde rausgeworfen, weil er Ratten hielt, der andere, Thomas (Name ebenfalls geändert, d. Red), wurde vor einigen Tagen weitervermittelt, der hat jetzt ein festes Zimmer“.
Drei Monate des Wartens
Auch sein ehemaliger Mitbewohner Thomas Wirtz musste fast drei Monate warten, bis er sein festes Zimmer bekam. Und auch er verbrachte seine Zeit damit, viel Spazieren zu gehen. Alkohol trinkt er nicht. Zuletzt wohnte er in Calw. Nachdem seine Mutter und sein Bruder beide am selben Tag starben, verlor er den Halt. „Ich hab meine Miete nicht mehr gezahlt, nach ein paar Monaten wurde ich dann rausgeworfen.“ Über Umwege landete er in Tübingen. Anfang Februar schlief er das erste Mal in der Notunterkunft. Im März verbrachte er einen Monat im Gefängnis in Rottenburg, wo er wegen Diebstahls einsitzen musste. „Ich hab dafür geradegestanden und damit fertig“, sagt Wirtz. Zwei Tage musste er danach warten, dann wurde in der Notschlafstelle in der Stuttgarter Straße wieder ein Bett frei. Einmal bot die Stadt ihm ein Zimmer in Rottenburg an. Sein Substitutionsarzt ist jedoch in Tübingen und auch Wirtz kann sich die regelmäßigen Tickets nicht leisten. „Ich will mein Leben in den Griff kriegen. Dazu muss ich hier in Betreuung bleiben.“
„Ich arbeite schon ungefähr 16 Jahre hier. Bis vor einem Jahr hat die Weitervermittlung besser funktioniert“, erinnert sich Dirk Seemüller, der beim Kontaktladen „Janus“ arbeitet und Wirtz und Krüger dort betreut. „10 bis 14 Tage kann man in der Notübernachtung auch mal die Arschbacken zusammenkneifen und warten, aber bei zwei Monaten und mehr ist das für unsere Klientel oft beinahe unmöglich“, so Seemüller. „Man muss sich das mal vorstellen, jeden Tag um 9 Uhr raus zu müssen, egal wie das Wetter ist.
Ein Problem, das einfacher identifiziert als gelöst ist. „Wir haben zu knappen ‚robusten‘ Wohnraum, mit wenig empfindlicher Umgebung. Und die Klienten haben meist komplexe psychosoziale Probleme“, sagt Elisabeth Stauber, Leiterin des Fachbereichs Soziales in Tübingen. „Wohnungslosigkeit ist nur eines davon. Sucht und zeitweise störendes Verhalten können zusätzliche Faktoren sein, die eine dauerhafte Vermittlung schwierig oder gar unmöglich machen.“ Im Bereich des Wohnraums soll Abhilfe geschafft werden. Planung und Standorte für mehrere Ein-Zimmer-Wohnungen für Wohnungslose in Tübingen existieren bereits. „Ich bin sehr froh, dass wir diese Planung haben, und dass wir vorwärts kommen“, sagt Stauber. „Einzelwohnungen mindern die Probleme.“ Bis die Wohnungen genutzt werden können, dauert es aber wohl noch ein paar Jahre.
Für die Abläufe in der städtischen Notübernachtung in der Stuttgarter Straße ist der diakonische Träger Dornahof zuständig. Christa Schöffend, Abteilungsleiterin der Wohnungsnotfallhilfe bei Dornahof, sieht genau wie Seemüller und Stauber das Problem in der Notübernachtung. „Wenn Menschen in Tübingen bleiben wollen, weil sie hier Therapie machen oder weil sie einfach schon immer Tübinger waren, ist es leider so, dass die Weitervermittlung oft nicht nahtlos klappt.“ In letzter Zeit habe das Problem zugenommen. Der Neubau von Seiten der Stadt sei „ein guter Anfang“. Ob es genug ist, müsse sich mit der Zeit zeigen.
Dornahof versuche auch Privatvermieter zu gewinnen, das sei aber sehr schwierig. In der Notübernachtung tagsüber zu bleiben, ginge außer in Ausnahmefällen nicht. „Es gibt keine Möglichkeit zu kochen und nur ein Bad und eine Dusche für alle“, sagt Schöffend. „Außerdem ist in den Räumen der Notübernachtungsstelle keine Tagesbetreuung möglich.“ In Einzelfällen und wenn der Bedarf nachvollziehbar sei, wie bei Krankheit und besonders schlechtem Wetter, können die Wohnungslosen aber auch tagsüber in der Notübernachtung bleiben, so Schöffend. Außerdem gebe es die Tagesstätte, in der sie sich immer aufhalten können.
Vermittlung läuft über das Ordnungsamt
Die Weitervermittlung aus der Notübernachtung läuft über das Ordnungsamt. Die Wohnungsnotfallhilfe meldet Personen in der Notübernachtung, das Ordnungsamt führt daraufhin ein Gespräch und bewertet die Situation. „Wenn es keine freien Plätze gibt, bleiben die Leute erstmal in der Notübernachtung“, sagt Ordnungsamt-Vize Rainer Letsche. „Manchmal gibt es auch erhöhten Klärungsbedarf zu Vorgeschichte oder Suchtproblematik.“ Letsche stellt klar: „Wir arbeiten mit einer schwierigen Klientel. Wir können oft nur reagieren und nicht agieren, weil wir nie abschätzen können, welcher Klient mit welchen Problematiken auf uns zukommt.“
Der Dornahof und die Stadt unterstützen die Wohnungslosen auch, wenn sie sich auf dem freien Wohnungsmarkt bewerben wollen. „Da kann man aber schon fast von Chancenlosigkeit sprechen“, sagt Schöffend. Ihre Klienten seien als Mieter eher unerwünscht. Andere bedürftige Personen werden Obdachlosen oft vorgezogen. „Ich denke, Wohnungslose werden immer gerne hinten angestellt. Sie haben einfach keine Lobby.“
Dass der Wohnraum fehlt, ist etwas, das auch Wirtz und Krüger verstehen. „Es ist einfach nichts da. Was sollen die Sozialarbeiter vor Ort da machen?“, fragt Krüger. Seine Ansprechpartnerin bei der Stadt beschreibt er als „fit, nett und hilfsbereit“, und fügt an: „Wenn die keinen Wohnraum hat, kann sie mir halt auch keinen geben.“ Auch Wirtz sagt: „Man wird gut beraten, da kann ich mich nicht beschweren.“
Was es dennoch nicht leichter macht. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass es für uns einfach schwerer ist“, sagt Krüger. „Wir werden falsch wahrgenommen.“ Was besser laufen könne? „Ich würde mir wünschen, dass wir bei schlechtem Wetter auch tagsüber drin sein dürfen, dass man uns entgegenkommt, wenn es gut läuft“, sagt er. „Dass man dem Ordnungsamt sagt, dass die bis 22.30 Uhr kommen und nicht in der Nacht.“ All das sei schwer auszuhalten für ihn. „Manchmal fühle ich mich echt wie ein Stück Dreck.“ Immerhin konnte er, kurze Zeit nach seinem Gespräch mit dem TAGBLATT, in eine der städtischen Unterkünfte für Männer ziehen, nachdem dort ein Platz frei wurde. Zuvor hatten seine Betreuer im Kontaktladen in Mails nochmal die Dringlichkeit einer Weitervermittlung klargemacht. „Plötzlich ist da ein Termin, wenn die mit ihrem Stempel drunter nachhaken“, beschreibt er sein Empfinden der Situation. „Wenn ich alleine nachgefragt habe, hatte ich immer das Gefühl, dass ich vertröstet werde.“