Abschied

Die Stimme erzeugt "Kino im Ohr"

Schwer kranke Menschen können für ihre Angehörigen ein Familienhörbuch aufnehmen lassen. Die Uni Heidelberg untersucht dessen Wirkung. Von Susanne Lohse,

05.06.2023

Von epd

Bad Schönborn, Heidelberg, Köln. Noch einmal die Stimme erheben, bevor die unheilbare Krankheit die Kraft dafür raubt. Für Nadja Seipel aus Bad Schönborn (Kreis Karlsruhe) war die Teilnahme an der Heidelberger Begleitstudie am Familienhörbuch schnell entschieden. „Ich habe sofort gewusst, das unterschreibe ich. Diese Chance bekomme ich nur einmal“, sagte die 46-Jährige gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die Lehrerin erfuhr 2015 von der Diagnose Brustkrebs. Seither lebt sie mit dem Stoppschild der eigenen Endlichkeit vor Augen. Ihre 13-jährige Tochter weiß nicht um die Tragweite der Krankheit. Die Diagnose ist lebensverkürzend, „muss aber nicht das Ende bedeuten“, betonte Seipel.

Im Familienhörbuch kommen Menschen zu Wort, die lebensverkürzend erkrankt sind und das Erwachsenwerden der minderjährigen Kinder nicht mehr begleiten können. Das Familienhörbuch ist etwas, das den Kindern bleibt. Das Medium Hörbuch erzeuge „Kino im Ohr“, sagte die Initiatorin des Familienhörbuchs, Judith Grümmer.

Als Radiojournalistin habe sie früher oft Menschen interviewt, deren Alltag von einer lebensbelastenden Situation geprägt war, berichtete Grümmer. Sie habe sich gefragt, „was würde ich tun in einer verheerenden Situation, in der ich meine Kinder zurücklassen müsste? Ich würde Kassettenrecorder vollquatschen“, sagt die Historikerin.

Aus ersten Familienhörbüchern für Senioren 2003 entwickelte sich 2019 die Familienhörbuch gGmbH mit Sitz in Köln. Grümmers Idee war es, Menschen zu Wort kommen zu lassen, um ihre eigene Geschichte und ihre Lebenserfahrungen für ihre minderjährigen Kinder zu erzählen. „Junge Eltern haben keine Gelegenheit, Erinnerungsmomente zu schaffen“, sagt sie.

In dem Ehrenamts-Team der Familienhörbuch gGmbH arbeiten mittlerweile 80 Personen unterschiedlichster Fachrichtungen: speziell ausgebildete Audiobiografikerinnen und -biografiker, Sounddesigner, Psychoonkologen, Anwälte. Anfragen für Aufnahmen kämen aus ganz Deutschland, den Niederlanden, Österreich sowie zuletzt auch aus Kanada, berichtet Grümmer.

Rund 100 Arbeitsstunden stecken in einem sechs Stunden langen Hörbuch. Etwa 5000 Euro betragen die Produktionskosten. Für die erkrankten Väter und Mütter ist die Teilnahme kostenlos. Finanziert wird das Hörbuch über Spenden wie etwa von der Dietmar-Hopp-Stiftung, die eine aktuelle Studie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg bezahlt.

Bis 15. Oktober 2023 haben 50 Menschen die Möglichkeit, an der Begleitstudie teilzunehmen. „Wir wollen einen besseren Einblick bekommen, ob und wie Hörbücher hilfreich für die Begleitung der kranken Menschen sind“, erklärte Anja Greinacher vom wissenschaftlichen Team der Studie am NCT. Erste Ergebnisse zeigen: „Die Teilnahme stößt etwas an, das über die Aufnahme hinausgeht“, so die Psychotherapeutin.

Ob das Familienhörbuch zur Prävention einer posttraumatischen Belastungsstörung eines Tages von den Krankenkassen anerkannt wird, wie die Beteiligten wünschen, ist offen. Sicher ist: Das Familienhörbuch ist ein Vermächtnis an die Kinder. Wichtig sei die Freiwilligkeit der Teilnahme und „zu respektieren, wenn jemand über Worte keinen Zugang dazu hat, etwas Bleibendes zu schaffen“, betonte Greinacher.

Nadja Seipel war es wichtig, sich neben bürokratischen Angelegenheiten wie dem Verfassen eines Testaments „um die Seele zu kümmern“. Durch die Stimme werden Bilder zum Leben erweckt. Narben können heilen, die inneren wie die äußeren.

„Die Reise in die Vergangenheit war eine schöne, aber anstrengende Zeit“, beschreibt Seipel die dreitägigen Aufnahmen. „Ich bin froh, dass ich das gemacht habe. Ich weiß, dass die Tochter keine Angst haben muss, mich zu verlieren. Sie kann auf mich, auf die Stimme zurückgreifen.“ Das mit Musik unterlegte Familienhörbuch möchte sie mit der Tochter anhören, wenn sie merkt „das Ende ist greifbar“.

100

Arbeitsstunden stecken in einem sechs Stunden langen Familienhörbuch. 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich an dessen Gestaltung.

„Film des Lebens“

wird in Ulm gedreht

Ein ähnliches Projekt gibt es seit gut einem Jahr in Ulm. Sarah Krämer und Klaus Hönig von der „Ulmer Schatzkiste“ ermöglichen es schwer krebskranken Eltern, für ihre kleinen Kinder einen „Film ihres Lebens“ zu drehen. Krämer macht am Uniklinikum die Facharztausbildung für psychosomatische Medizin, der Psychoonkologe Hönig leitet die Ulmer Krebsberatungsstelle. Vor eineinhalb Jahren haben sie ihr Projekt gestartet. Es ist eine Erfolgsgeschichte.

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Erstellt:
05.06.2023, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 00sec
zuletzt aktualisiert: 05.06.2023, 06:00 Uhr

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