Tübingen

Die Neujahrsrede von OB Boris Palmer im Wortlaut

Der Neujahrsempfang in der Neuen Aula der Uni ist traditionell die Gelegenheit für Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, auf Ereignisse des vergangenen Jahres zurück und auf die Herausforderungen des neuen Jahres vorauszublicken.

19.01.2024

Von ST

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer bei seiner Neujahrsrede 2024. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer bei seiner Neujahrsrede 2024. Bild: Hans-Jörg Schweizer

Hier veröffentlichen wir die Vorabversion der Neujahrsrede 2024 von OB Boris Palmer im Wortlaut (es gilt das gesprochene Wort):

„Unsere Heimatzeitung, das SCHWÄBISCHE TAGBLATT, hat den Aufmacher seiner letzten Ausgabe im Jahr 2023 den guten Nachrichten gewidmet. Das war ein Novum. Gewohnt sind wir Jahresrückblicke auf Tagessprüche und Leserbriefe, nicht auf Erfolge. Die Absicht der Redaktion war es, die guten Nachrichten zu betonen, weil sie unter all den schlechten untergehen könnten. Eine Umfrage für den „Spiegel“ bestätigte diesen Eindruck: 77 Prozent der Befragten sagten, Deutschland stehe jetzt schlechter da als vor einem Jahr. Nur 12 Prozent finden, dem Land gehe es besser.

Das ist ein drastischer Stimmungswandel. Ich habe selbst in meiner letzten Rede an dieser Stelle die vielen Probleme betont, vor denen unsere Gesellschaft steht. Dabei habe ich stark auf Deutschland geblickt. Der Zukunftsforscher Matthias Horx meint hingegen, dass wir in einer globalen „Omnikrise“ stecken. Corona, Klimawandel, erst der Krieg in Russland, dann auch noch Terror gegen Israel und Krieg im Gazastreifen. Da kann man schon verzweifeln an der Welt.

Mir kam deswegen das 2018 erschienene Buch „Factfulness“ von Hans Rosling wieder in den Sinn. Er beschreibt dort sehr eindrücklich, dass in den westlichen Gesellschaften ein grob falsches und viel zu negatives Bild vom Zustand der Erde vorherrscht, weil wir nicht wahrnehmen, wie groß die Fortschritte in den Entwicklungsländern sind. Er belegt das mit eindrucksvollen Zahlenreihen, die unter anderem zeigen, dass wir weltweit seit 1970 immense Erfolge bei der Bekämpfung von Kindersterblichkeit, Krieg und Hunger sowie dem Ausbau von Gesundheits- und Bildungssystemen erzielt haben. Seine Datenreihen endeten aber um 2015. Ich habe mich daher gefragt, ob unser gegenwärtiger Pessimismus wieder auf einer verzerrten Wahrnehmung beruhen könnte und nach neueren Daten zur Lage der Welt gesucht. Gefunden habe ich Folgendes:

  • Die Zahl der Toten in kriegerischen Konflikten ist seit dem Zweiten Weltkrieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kleiner geworden. Die Trendumkehr fand vor zehn Jahren mit dem Krieg in Syrien statt. Und in den Jahren 2022 und 2023 sind mehr Menschen in Kämpfen getötet worden als in jedem Jahr seit 1994, dem Jahr des Völkermords in Ruanda, der 800.000 Menschen das Leben gekostet hat. Der Grund ist, Sie ahnen es richtig, der Krieg in der Ukraine und nun auch der Krieg zwischen Hamas und Israel.
  • Von 1970 bis 2015 wurden große Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers erzielt. Der Anteil der unterernährten Menschen sank von 28 Prozent auf 11 Prozent. Dann stagnierte die Entwicklung. Und in den letzten Jahren stieg die Zahl der hungernden Menschen weltweit von 572 auf 735 Millionen an. Die wichtigsten Ursachen sind auch hier der Krieg in der Ukraine und der daraus folgende Anstieg der Getreidepreise, aber auch die Maßnahmen zur Pandemieabwehr, die Lieferketten und Märkte massiv beeinträchtigt haben. Wie befürchtet leiden darunter die Ärmsten der Armen noch lange weiter.
  • Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, ist seit 1970 von 50 Prozent auf acht Prozent im Jahr 2017 gesunken. Erstmals in unserem Jahrhundert gab es seither wieder einen Anstieg auf nunmehr neun Prozent. Das sind 80 Millionen Menschen mehr, die unter der Schwelle eines Einkommens von zwei Dollar am Tag leben müssen. Der Grund sind ebenfalls die Pandemiemaßnahmen und der Ukrainekrieg.
  • Die liberale Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform hat sich seit 1850 auf der Welt immer weiter ausgebreitet. Im Jahr 2000 war die Welt zur Hälfte in Demokratien und autoritäre Staatsformen aufgeteilt. Doch seither ist die Demokratie wieder auf dem Rückzug und eine Reihe von Staaten schränkt Bürgerrechte ein.
  • Der größte Öl-Produzent der Welt, die USA, hatte seine Förderung von 1970 bis 2010 halbiert. In den letzten 13 Jahren haben die Vereinigten Staaten die Ölproduktion aber fast wieder verdreifacht. Das Fracking-Verfahren hat im Jahr 2023 einen Allzeit-Produktionsrekord ermöglicht. Die weltweiten CO2-Emissionen sind folgerichtig mit fast 37 Milliarden Tonnen weltweit ebenfalls auf einem Allzeithoch.

Mein Zwischenfazit lautet: Ja, unsere Krisenwahrnehmung ist leider berechtigt. Für das Wohlergehen der Menschheit wichtige Trends haben sich in den letzten Jahren gemeinsam ins Negative gewendet. Wir leben tatsächlich in einer Zeit sich teilweise gegenseitig verschärfender Großkrisen, einer Omnikrise.

Wie können wir mit diesem Befund umgehen? Ich meine, es ist wieder mal Zeit für einen Philosophen, am besten für einen Tübinger: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. In seiner Theorie der Dialektik verläuft Erkenntnisgewinn entlang der Linie: These – Antithese – Synthese. Man muss Gegenstände von allen Seiten betrachten, um sie zu verstehen. Der Widerspruch ist die Voraussetzung für bessere Erkenntnis.

Aus der Praxis eines knitzen schwäbischen Bürgermeisters lässt sich Dialektik ganz einfach erklären: Der Bürgermeister geht mit einem Stift (für Reigschmeckte ist das ein Lehrling) über den Marktplatz und ein Bürger sagt, man müsse hier endlich die Parkplätze streichen. Der Bürgermeister gibt ihm Recht. Wenig später kommt ein anderer Bürger und verlangt mehr Parkplätze an derselben Stelle. Der Bürgermeister gibt ihm Recht. Als beide Bürger weg sind, sagt der Stift: Herr Bürgermeister, Sie haben den beiden Bürgern Recht gegeben, obwohl der eine mehr Parkplätze will und der andere weniger. Das widerspricht sich doch. Darauf sagt der Bürgermeister: „Do hosch du au wieder recht.“

Die Reaktion des TAGBLATTS auf die „massenhaften schlechten Nachrichten“ des vergangenen Jahres kann man als Dialektik begreifen: Wir stellen die guten Nachrichten als Widerspruch erst recht heraus. Die Synthese ist dann ein realistisches Bild der Lage, das gute und schlechte Nachrichten zusammenfasst.

Wie könnte ein dialektischer Widerspruch die trübe Sicht auf unsere Zeit aufhellen? Nun, einige globale Trends bleiben weiterhin positiv. Der Anteil der Menschen mit Zugang zu sauberem Trinkwasser wächst. Immer mehr Kinder erhalten eine Schulbildung. Die Gesundheitsversorgung verbessert sich und die Kindersterblichkeit sinkt. Vielleicht am wichtigsten für das 22. Jahrhundert: Die Geburtenrate sinkt weiter und liegt mit 2,3 Kindern pro Frau nur noch zehn Prozent über dem Gleichgewichtspunkt. Und: Die Rückschläge, die wir nun erkennen müssen, sind nicht Schicksal, sondern weitestgehend menschengemacht. Wir können aus diesen Fehlern lernen und auf den Erfolgspfad zurückkehren. Wir können uns darauf besinnen, für welche Werte wir wirklich eintreten wollen, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Und tatsächlich gibt es auch erstaunlich positive Entwicklungen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. China hat im vergangenen Jahr die Installation neuer Solaranlagen auf den Wert von 240 Gigawatt gesteigert. Zum Vergleich: In Deutschland sind derzeit insgesamt 80 Gigawatt Photovoltaikanlagen in Betrieb. China hat also in nur einem Jahr dreimal mehr Solaranlagen errichtet als der frühere Solar-Weltmeister Deutschland in den letzten 30 Jahren zusammen. PV-Module aus China sind mit 19 Cent je Watt so billig wie nie zuvor. Vor einem Jahr musste man dafür noch 30 Cent bezahlen.

Hier ist ein erster Schwenk nach Tübingen angebracht: Letztes Jahr konnte ein Tübinger Start-up, das heute zur BayWa r.e. gehört, seinen Neubau einweihen. Der europaweit größte Händler von Solaranlagen sitzt in Tübingen. Natürlich steht auf dem Dach und der Fassade die größte PV-Anlage der Stadt mit einer Leistung von 1,4 Megawatt. Doch schon im Februar holen sich die Stadtwerke diesen Titel wieder: Dann beginnt der Bau einer Solaranlage neben der B 27 von den bereits bebauten Lustnauer Solar-Ohren zum dritten Lustnauer Ohr mit einer Leistung von 8,4 Megawatt. Und die Idee vom Solar-Ohrenbau exportieren die Stadtwerke auch auf die Härten, wo die Gemeinde Kusterdingen bereits zugestimmt hat.

Schauen wir uns noch einmal an, was die Stimmung bei uns im Lande drückt. Das sind ja nicht nur globale Krisen, sondern auch hausgemachte Probleme. Die Industrieproduktion ist eingebrochen. Das Wort von der Deindustrialisierung macht die Runde. Standortschließungen und Kurzarbeit breiten sich aus. Darunter sind auch große Namen wie Bosch, Conti, Liebherr und ZF, auch Tübinger Unternehmen sind dabei. Die These, unserer Wirtschaft gehe es derzeit schlecht, lässt sich begründen.

Eine Umfrage der Landesbank Baden-Württemberg bei 1.200 Unternehmen hat gerade erst zutage gebracht, was aus Sicht der Wirtschaft die größten Probleme sind. Und nein, das ist nicht die Energie, das sagten nur 17 Prozent. Das größte Hemmnis aus Sicht der Wirtschaft ist mit 57 Prozent der Nennungen die Bürokratie, gefolgt von 43 Prozent für den Fachkräftemangel. Daraus lässt sich eine schöne Antithese zum unaufhaltsamen Niedergang der Wirtschaft formulieren: Wir können uns selbst aus dem Schlamassel befreien, denn gegen Bürokratie und Fachkräftemangel könnten wir viel unternehmen.

Beim Fachkräftemangel mag Sie das jetzt wundern. Ich sage ja selbst immer wieder, man kann sich fehlende Erzieherinnen nicht backen. Das stimmt auch. Aber als Land hätten wir durchaus Möglichkeiten, das Arbeitskräfteangebot schnell zu erhöhen. Ich nenne nur zwei große Hebel:

Zum einen die erst vor acht Jahren eingeführte abschlagsfreie Rente mit 63. Sie haben mittlerweile 2,5 Millionen Menschen in Anspruch genommen, im letzten Jahr fast 30 Prozent des Jahrgangs. Und jetzt erst kommen die geburtenstärksten Jahrgänge ins Rentenalter. Die Rente mit 63 wieder abzuschaffen, würde uns für den Rest des Jahrzehnts durchschnittlich 500.000 gut ausgebildete Fachkräfte im Arbeitsmarkt zusätzlich erhalten. Und nebenbei könnte der Staat dann wieder mehr in Klimaschutz und Infrastruktur investieren. Denn die Rente mit 63 wird aus Steuermitteln bezahlt und kostet neun Milliarden Euro im Jahr. Das ist mehr als die Hälfte des Betrags, den die Bundesregierung dieses Jahr wegen des Urteils des Verfassungsgerichts einsparen muss und so unglücklich verteilt hat, dass nun die Bauern auf den Barrikaden sind.

Zum anderen nenne ich die Wiederherstellung des Lohnabstandsgebotes. Das Bürgergeld ist seit Dezember 2022 um 24 Prozent erhöht worden. Wer sonst hat solche Einkommenssteigerungen? Der Mindestlohn jedenfalls ist im gleichen Zeitraum nur um vier Prozent gestiegen. Eine Kombination aus für sich genommen gut gemeinten und gut begründeten Entscheidungen zum Ausbau des Sozialstaats – von Wohngeld über Kinderzuschlag bis zum Bürgergeld auch für ukrainische Geflüchtete – hat dazu geführt, dass sich Arbeit in vielen Fällen nicht mehr lohnt. Ein Gutachten für die Bundesregierung nennt dafür einen Korridor zwischen etwa 3400 Euro und 5000 Euro brutto. In diesem Bereich wird vielen Familien jeder zusätzlich verdiente Euro durch den Entzug von Transferleistungen sowie höhere Steuern und Abgaben sofort wird abgenommen. Wer mit Unternehmern spricht, weiß auch, dass viele Bürgergeld-Empfänger, die erst seit kurzem hier sind, keinen Anreiz sehen, für wenige Hundert Euro mehr den ganzen Monat zu arbeiten. Hätten wir eine Arbeitsquote der Geflüchteten aus der Ukraine wie Dänemark oder Polen, dann wäre eine halbe Million Stellen zusätzlich besetzt.

Wer die Antithese vertritt, das habe mit dem Bürgergeld nichts zu tun, muss zumindest alle anderen bürokratischen Hemmnisse abbauen, die dazu führen, dass bei uns 80 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine nicht arbeiten. Entscheidend ist jedenfalls: Allein bei der Rente mit 63 und Geflüchteten aus der Ukraine liegt ein Arbeitskräftepotenzial meist gut qualifizierter Menschen von einer Million Erwerbspersonen.

Das führt uns zur Bürokratie. Und da kann ich der Kritik der Unternehmen nur aus vollem Herzen zustimmen. Wir legen uns selbst lahm. Die Straßenbeleuchtung durfte die Stadt selbst mitten in einer Energiekrise nicht ausschalten, damit man nachts um 3 Uhr über einen beleuchteten Zebrastreifen gehen kann. Das Land war kurz davor, die Mehrwertsteuer auf Kuchenverkauf in Schulen einzuführen, und zwar mit einem 30-seitigen Leitfaden zur Unterscheidung steuerpflichtiger und steuerfreier Fälle. Im vergangenen Jahr erhielt ich den Bericht der „Überwachungsstelle für mediale Barrierefreiheit“ – ich wusste auch nicht, dass es sowas gibt – zur städtischen Homepage. Sie hat aus Zeitgründen nur fünf Seiten des viele Tausend Seiten umfassenden Angebots untersucht und dabei ein halbes Dutzend Verstöße gefunden. Insgesamt muss eine Webseite 137 Anforderungen erfüllen, damit sie als barrierefrei gilt. Bevor eine neue PDF-Datei auf die Webseite der Stadt kann, müsste eine Spezialistin mittlerweile eine halbe Stunde nur für die Barrierefreiheitsprüfung arbeiten. Wer soll das alles verstehen und umsetzen?

Riesigen Aufwand betreiben wir in allen Städten, weil der Bund uns nicht erlauben will, nach eigenem Ermessen Tempo 30 einzuführen, wo wir es für sinnvoll halten. Stattdessen wird für jede Straße ein eigenes Gutachten gemacht und manchmal sogar zwei. Vor zehn Jahren haben umfangreiche Gutachten bewiesen, dass wir in der Rümelinstraße mit Tempo 40 weniger Abgase haben als mit Tempo 30. So schrieb es der Luftreinhalteplan fest. Jetzt ist die Luft angeblich rein, daher wird jetzt der Lärm bekämpft. Ein neues Riesenwerk namens Lärmaktionsplan fordert Tempo 30 in der Rümelinstraße, weil es dann leiser sei als mit Tempo 40. Tatsache ist: Die geringen Unterschiede bei Lärm und Abgasen sind für Menschen nicht wahrnehmbar und mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Wirkung auf die Gesundheit. Der Gemeinderat sollte einfach entscheiden dürfen, was er richtig findet. Und das sage ich, obwohl ich seine Entscheidung falsch finde, sogar auf der vierspurigen Wilhelmstraße bis nach Lustnau Tempo 30 einführen zu wollen.

Mein aktuell größtes Ärgernis mit Bürokratie betrifft einen einzelnen toten Vogel. Ein männlicher Ziegenmelker wurde mehrere Jahre auf den Dächern der Kliniken und der Morgenstelle gesichtet. Bevor wir weitere Klinik- und Forschungsgebäude genehmigen können, muss für diesen Ziegenmelker ein neues Zuhause gefunden werden. Der Vogel liebt offenes Land. Daher sollen nun zehn Hektar Wald auf dem Steinenberg weitgehend gerodet werden. Und das, obwohl der einzige Vogel seiner Art im letzten Jahr verstorben sein muss, denn er wurde nirgends mehr gesichtet und konnte als einsames Männchen auch nie brüten. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, muss für den gerodeten Wald an anderer Stelle neuer Wald gepflanzt werden, so dass sich dort dann kein Ziegenmelker mehr ansiedeln kann. Ich habe unserem Ministerpräsidenten in einem vierseitigen Brief diesen besonders grotesken Fall des Zusammentreffens von Vorschriften mit absurden Ergebnissen geschildert und konkrete Vorschläge zur Streichung von Regelungen im Landeswaldgesetz gemacht, um dem zu begegnen.

Das Schlimmste an der Bürokratie ist dabei noch nicht mal, dass alles viel länger dauert und viel teurer wird. Das Schlimmste ist die Verschwendung von Lebenszeit so vieler Menschen für völlig sinnlose Tätigkeiten und die daraus erwachsende Frustration. Wer nur noch Berichtspflichten erfüllt, hat irgendwann die Schnauze voll und wandert in Länder aus, wo man noch etwas unternehmen kann. Und wer als Architekt jahrelang Habitate für einen bereits toten Vogel planen muss, ist in akuter Gefahr, selbst irgendwann einen Vogel zu bekommen.

Im Ergebnis ist es ganz einfach: Wir müssen die Zahl der Gesetze, Regeln und Vorschriften deutlich reduzieren, damit in diesem Land wieder etwas vorangeht. Und wenn die Vorschriften nicht entfallen können, dann braucht es mehr Freiraum für vernünftige Entscheidungen. Dafür gibt es erste Ansätze. Die Bundesregierung beabsichtigt, einen Paragrafen einzuführen, der es den Kommunen erlauben würde, Wohnungsbau im Siedlungsbereich ohne Bebauungsplan zu gestatten. Gewissermaßen ein Pendant zur Legalplanung, mit der die berühmten LNG-Terminals in einem Jahr errichtet wurden. Das könnte allein in unserer Stadt Hunderte von Baugenehmigungen erlauben, die wir sonst auch in zehn Jahren nicht zustande bekämen. Geplant ist im Wohnungsbau auch die Einführung der Genehmigungsfiktion: Wenn die Behörde in drei Monaten keine Ablehnungsgründe nennt, ist genehmigt. Und fehlende Parkplätze sollen gar kein Grund mehr sein, Wohnungsbau zu verhindern. Sehr gut, mehr davon!

Auch das Land hat einen erfreulichen Paradigmenwechsel begonnen. Im Dezember hat der Landtag ein Gesetz beschlossen, das es den Kommunen erlaubt, vom Kita-Gesetz abzuweichen, wenn dafür ein begründetes Konzept vorgelegt wird. Ich denke, das ist eine Chance, die wir unbedingt nutzen müssen. Wenn wir es klug anstellen, können wir dadurch schon im kommenden Kindergartenjahr allen Eltern wieder einen Betreuungsplatz für ihr Kind anbieten. Wie das gehen soll?

Wir dürfen in den Kitas laut Gesetz schon jetzt Personen beschäftigen, die formal keine Fachkräfte sind, aber wir dürfen diese Stellen nicht bei der Berechnung der Betreuungsplätze berücksichtigen. Wenn es uns aber gelingt, den Tag in der Kita in eine Phase des Lernens und eine kürzere Phase der Betreuung zu unterteilen, dann könnten Kitas auch mit Zusatzkräften länger geöffnet sein. Schon mit den vorhandenen Zusatzkräften würde das rechnerisch ausreichen, um die fehlenden Plätze zu schaffen. Die Kitas dafür sind ja schon gebaut. Das wäre wieder ein Tübinger Weg, der vom geltenden Landesgesetz abweicht und dadurch ein großes Problem löst. Dialektisch gibt es dazu viele Antithesen, von den Sorgen der Fachkräfte und der Eltern vor Qualitätsverlust bis hin zur Konkurrenz mit anderen Kommunen. Über all diese Widersprüche werden wir sprechen müssen. Entscheidend ist aber: Wir haben jetzt die Sache selbst in der Hand und stehen nicht mehr vor einem unlösbaren Problem im System.

Angesichts des klaffenden Lochs im Haushalt von mehr als 30 Millionen Euro hätte ich heute auch eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede halten können, um Sie auf die anstehenden Kürzungen und Einsparungen einzustimmen. Sie verdanken es unserem Hegel, dass ich darauf verzichtet habe. Wenn die Stimmung eh schon schlecht ist, muss man über Hoffnungsvolles sprechen. Und Hegel sei Dank habe ich mich auch entschieden, auf die eigentlich notwendige Streichung jeder Butter von den Brezeln zu verzichten. Gewissermaßen als Antithese zu einem klassischen Streichkonzert bleibt es bei „halbe-halbe“ wie im letzten Jahr. Wir brauchen nicht nur Realismus, sondern auch Kraft und Zuversicht, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein optimistisches 2024!“

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Erstellt:
19.01.2024, 19:30 Uhr
Lesedauer: ca. 10min 01sec
zuletzt aktualisiert: 19.01.2024, 19:30 Uhr

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