Tübingen · Psychologie

Die Haustür als Endgegner

Die Karlsruher Youtuberin „MissVerstand“ sprach am Uniklinikum über ihre Zwangshandlungen und neue, digitale Therapieformen.

11.02.2020

Von Hannah Waltersberger

Wie Therapiesitzungen per Tablet aussehen können, erklärt Psychologe Karsten Hollmann gemeinsam mit Youtuberin Franziska. Bild: Ulrich Metz

Wie Therapiesitzungen per Tablet aussehen können, erklärt Psychologe Karsten Hollmann gemeinsam mit Youtuberin Franziska. Bild: Ulrich Metz

„Hallo und herzlich willkommen zu meinem neuen Video“, so beginnt Franziska im Sommer 2015 den kurzen Film auf ihrem Kanal „MissVerstand“. Doch in den darauffolgenden zehn Minuten spricht sie nicht etwa über Klamotten oder Make-up, sondern berichtet ganz offen über ihre Zwangsstörung. Heute folgen der Karlsruher Studentin, die ihren Nachnamen geheimhalten will, rund 12 000 Menschen auf Youtube. In der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie erzählt sie am Montagmorgen ihre Geschichte und diskutiert mit Psychotherapeut Karsten Hollmann über Möglichkeiten der Therapie per Smartphone und Tablet.

Ihre Zwangsstörung habe sich schleichend entwickelt, berichtet die Youtuberin. Mit 14 habe sie das erste Mal den Zwang verspürt, eine Steckdosenleiste vor dem Schlafengehen auszumachen und auf eine feuerfeste Unterlage zu legen. Doch ihr Kontrollzwang verstärkte sich zunehmend, die Zahl der auszuschaltenden Steckdosenleisten wurde immer größer, und auch das Abschließen der Haustür begann sie zwanghaft zu kontrollieren. „Die Haustür war der Endboss. Irgendwann bin ich nicht mehr zum Schwimmtraining gegangen, weil ich abends nicht als letzte die Haustüre abschließen wollte“, sagt Franziska.

Wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland von einer Zwangsstörung betroffen sind, ist nur schwer zu sagen. Psychologe Karsten Hollmann geht davon aus, dass ein bis drei Prozent der 6- bis 18-Jährigen unter Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen leiden. Kontrollzwänge wie die von Franziska träten dabei oft auf, am häufigsten seien aber Wasch- und Reinigungszwänge.

„Der Leidensdruck der Betroffenen ist oft sehr hoch und beeinflusst häufig das gesamte Familienleben“, erklärt Karsten Hollmann. Um den Heranwachsenden und ihren Familien effektiver zu helfen, testet das Uniklinikum Tübingen eine digitale, ortsunabhängige Therapieform. „Das ist echt zukunftsorientiert und hätte mir sicher auch geholfen“, sagt Franziska. Die BWL-Studentin war selbst nie in Therapie, sondern kann dank selbstentwickelter Rituale mittlerweile mit ihren Zwangsstörungen umgehen. Auch Youtube und ihre Community habe ihr bei der Verarbeitung geholfen, meint die 20-Jährige. „Ich bin eine kleine Rampensau und hatte auch nie das Gefühl, dass ich meine Zwangsstörung verstecken muss.“

Am 18. Februar beantwortet Youtuberin Franziska gemeinsam mit Psychotherapeut Karsten Hollmann live Fragen von Betroffenen. Der Social-Media-Live-Talk beginnt um 18 Uhr auf der Facebookseite und dem Instagram-Account der Uniklinik.

Psychotherapie mit Tablet und Smartphone

Therapiestunden per Videochat, Stimmungstracking am Smartphone und Erfassung von Herzfrequenz und Schlafqualität mit einer physiologischen Uhr: Mit diesem neuen Therapieangebot bei Zwangsstörungen will die Uniklinik auch Betroffenen im ländlichen Raum effektiver helfen. Denn gerade dort sei der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen oft erschwert, so Psychologe Karsten Hollmann. 30 Teilnehmer nutzen das ortsunabhängige Therapieangebot bereits, doch mindestens zehn Therapieplätze gilt es noch, an 6- bis 18-jährige Baden-Württemberger zu vergeben.

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Erstellt:
11.02.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 21sec
zuletzt aktualisiert: 11.02.2020, 01:00 Uhr

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