Belarus

Die Flüchtlinge rufen „Germany, Germany“

Mit einer menschlichen Druckwelle auf die EU setzt Diktator Alexander Lukaschenko an der Grenze zu Polen seine lange geplante Operation „Schleuse“ um – und arbeitet tatkräftig mit nahöstlichen Schlepperbanden zusammen.

11.11.2021

Von Stefan Scholl

Immer mehr Flüchtlinge harren an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus.  Foto: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa

Immer mehr Flüchtlinge harren an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus.  Foto: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa

Moskau. Aus Sicht der Flüchtlinge erzählt eines der Videos, die in den Migranten-Chats kursieren, diese Geschichte sehr schnell: Eine endlose Stacheldrahtrolle teilt den Herbstwald, dahinter steht eine Phalanx behelmter Kämpfer mit Schildern: Polnische Polizeieinheiten machen Front. Gegen junge Männer, nicht mehr ganz glatt rasiert, aber in winterfester Kleidung. „Germany, Germany“, skandieren sie das Ziel ihrer Wünsche.

An der Grenze zwischen Belarus und Polen herrscht eine Art Krieg. Ein hybrider Krieg, behaupten die Polen, organisiert vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. „Die haben sich selbst organisiert“, sagte dagegen das Staatsgrenzkomitee Weißrusslands über die tausendköpfige Migrantenkolonne, die in dieser Woche entlang der Autobahn M6 von Minsk Richtung Grenze marschierte.

Aber die meisten Beobachter sind sich sicher, dass Lukaschenko den neuen Flüchtlingsstrom nicht nur duldet, sondern ihn selbst organisiert hat. „Lukaschenko verwirklicht seine seit Langem geplante Operation ,Schleuse’“, sagt die Warschauer Journalistin Jelena Babakowa dem russischen Kanal TV Doschd.

Laut Babakowa haben die belarussischen Sicherheitsdienste die Operation „Schleuse“ vor zehn Jahren ausgearbeitet, um mithilfe von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika Druck auf die EU-Grenze auszuüben. Der Druck ist da, nach Angaben einer polnischen Grenzschutz-Sprecherin befinden sich gegenwärtig zwischen 3000 und 4000 Migranten im Grenzgebiet. Die polnischen Geheimdienste vermuten, insgesamt befänden sich 12 000 bis 15 000 in Belarus. Um, wie es Lukaschenkos Grenzkomitee formuliert, „ihr Recht zu realisieren, in der EU einen Antrag auf die Anerkennung als Flüchtling zu stellen“.

In den vergangenen Tagen versuchten zahlreiche Migranten, den Stacheldrahtzaun mit Stangenhölzern auszuhebeln, andere schwangen Spaten gegen den Verhau oder warfen Steine. Die polnischen Grenzschützer versprühten als Antwort Tränengas. Die meisten Migranten aber blieben friedlich.

Die Flüchtlinge rufen „Germany, Germany“

Andere Videos lassen Schüsse hören, in einem feuert ein Mann in offenbar belarussischer Tarn­uniform eine Kalaschnikow horizontal ab. „Da wird wohl mit Platzpatronen geschossen“, vermutet Artur P. (vollständiger Name der Redaktion bekannt), ein belarussischer Oppositionsaktivist, der die Operation „Schleuse“ seit Monaten beobachtet. „Die Flüchtlinge zucken nicht einmal zusammen, offenbar wussten sie vorher, dass geschossen wird.“ Die polnische Seite äußerte wiederholt die Befürchtung, die Belarussen würden alles versuchen, um die Situation aufzuschaukeln, bis hin zu Todesopfern. Da wirkt das Video noch harmlos, in dem Migranten einem Kind Zigarettenrauch ins Gesicht blasen, damit es danach mit tränenden Augen einer weißrussischen TV-Reporterin Antwort stehen kann.

Auch gegenüber dem Oppositionsportal Belorusskij Partisan sagten Migranten, sie wollten nach Deutschland. Laut Artur kampieren mehrere Gruppen in den Wäldern auf der polnischen Seite, wo sie auf Schlepper warten, die sie weiter zur deutschen Grenze bringen. „Sie möchten auf keinen Fall in ein polnisches Asylbewerberlager.“

Die Masse der Migranten komme aus Kurdistan, sie flögen über die Vereinigten Emirate, aber auch über Beirut oder Jerewan nach Minsk. Die im Nahen Osten agierenden Schlepperbanden machten gemeinsame Sache mit den belarussischen Behörden und zahlten ihnen Geld. „Wir vermuten, Lukaschenko kassiert die Hälfte.“ Wohlhabende Migranten hätten in Minsk sogar belarussische Leibwächter. „Und Kurden, denen das Geld ausgegangen ist, dürfen in Fußgängerunterführungen übernachten. So etwas war in Minsk bisher undenkbar.“

Die Oppositionellen vermuten, Lukaschenko wolle mit dieser menschlichen Druckwelle auf die polnische Grenze die EU, die neue Sanktionen gegen das halb bankrotte Belarus plant, zu Zugeständnissen zwingen. Der Exilpolitiker Wadim Prokopijew sagt, auch die Schutzmacht Russland tue nichts, um den Konflikt an der Außengrenze der russisch-belarussischen Union zu entschärfen. „Die Russen verfolgen offenbar sehr interessiert, wie gut die EU in der Lage ist, sich gegen eine neue Flüchtlingswelle zu wehren.“ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fand in einem Telefonat mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch deutliche Worte: Die „Instrumentalisierung von Migranten gegen die Europäische Union durch das belarussische Regime“ sei „unmenschlich und vollkommen inakzeptabel“.

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Erstellt:
11.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 55sec
zuletzt aktualisiert: 11.11.2021, 06:00 Uhr

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