Staatsoper Stuttgart

Der ganze „Rheingold“-Zirkus – Die Premierenkritik

Mit einem zirkushaften wie intellektuellen „Rheingold“ in der Lesart von Stephan Kimmig hat ein neuer „Ring des Nibelungen“ begonnen. Ein umjubeltes Ensemble, Buhs für die Regie.

23.11.2021

Von Jürgen Kanold

„Das Rheingold“ der Artisten: Goran Juric als Wotan (rechts) und Matthias Klink als Loge drehen quälend den Nibelungen Alberich (Leigh Melrose). Bild: Matthias Baus

„Das Rheingold“ der Artisten: Goran Juric als Wotan (rechts) und Matthias Klink als Loge drehen quälend den Nibelungen Alberich (Leigh Melrose). Bild: Matthias Baus

Stuttgart. Jetzt taucht endlich Erda auf, die Urgöttin – allerdings nicht umnebelt aus der Tiefe, sie radelt locker herein, als käme sie gerade vom Einkaufen oder von der Arbeit: „Weiche, Wotan, weiche!“, mahnt die Frau. Sie könnte eine Volkshochschuldozentin sein und eine Umweltaktivistin, die bei dieser Gelegenheit den Rücktritt eines regierenden Politikers fordert. Und überhaupt in dieser Klimakatastrophe einen Systemwechsel. Erda ist die Wissende: „Alles, was ist, endet!“

Okay, nicht schön. Wotan überlässt jetzt tatsächlich den Riesen von der Baufirma den verfluchten Ring. Hat er aber wirklich verstanden? Es ist eine vertrackte Sache. Da hat sich der Göttervater eine tolle Burg hinstellen lassen, Walhall – was auch seine Ehefrau Fricka (elegant, hell: Esther Dierkes) begrüßt, vielleicht bleibt dann der Mann, der gerne auswärts begattet, öfter zu Hause.

Macht oder Liebe

Doch fehlte das Geld für den Kaufvertrag. So haben Wotan und sein Berater Loge diesem Alberich den Nibelungenschatz geraubt – was eigentlich nur gerecht war, denn der hatte ja wiederum auch nur den Rheintöchtern das Gold geklaut, die Natur ausgebeutet und sich diesen Ring von seinen Sklaven schmieden lassen, um die Macht über alle und alles zu erringen. Alberich aber hat dafür der Liebe entsagt. Beides geht offenbar nicht im Kapitalismus.

So ungefähr beginnt Richard Wagners vierteiliges Musikdrama „Der Ring des Nibelungen“: Der „Vorabend“ dazu, „Das Rheingold“, hatte jetzt in der voll besetzten Staatsoper Stuttgart Premiere, und zwar in der Regie von Stephan Kimmig, der seine Version in der Kulisse einer bis aufs Gerippe abgebrannten Zirkusmanege erzählt (Bühne und Kostüme: Katja Haß, Anja Rabes). Keine Magie mehr, dieser Ort ist entzaubert. Das ist eine Aussage.

Bevölkert ist der Schauplatz mit irgendwie übrig gebliebenen, noch bunt kostümierten Artisten. Erda (Stine Marie Fischer) kommt auch nicht göttlich daher und schon gar nicht mythisch verbrämt; und die drei Rheintöchter, es sind Studentinnen, die „Fridays for Future“ kennen, sie schauen immer mal wieder vorbei, um sich Notizen zu machen, was da alles so passiert. Sie lernen viel.

Wotan also tritt in dieser Inszenierung als der derangierte Zampano im Silberglitzerfrack auf. Und am Ende, wenn das Orchester aufbraust und Regenkittel gegen den Sturm verteilt werden, sitzt er in Unterhosen da. In solchen wird im Übrigen, sagte einmal Volker Klotz in seiner Analyse des „bürgerlichen Lachtheaters“, der Hausherr regelmäßig am Ende des zweiten Akts eines Schwanks erwischt. „Das Rheingold“ als Posse – auch das ist Kimmig nicht fern.

Er bezieht sich in seiner Regie vor allem auf Ernst Bloch: Die „Kitschmythologie“ Wagners sei nur zu retten durch „surrealistische Kolportage“, hatte der Philosoph 1929 befunden. Jahrmarkt, Zirkus, Rummelplatz müssten einbrechen in diese germanophile Welt. Weil ein großer Teil des Personals in Wagners „Ring“ permanent trickst, diese Gesellschaft sehr heutig von Bluffs, Illusionen, von Traumbildern lebt, jongliert Kimmig in diesem „Rheingold“ angemessen assoziationsreich. Wagners revolutionärer Impetus von 1849 flimmert in der Iszenierung nur noch anfangs in einer Projektion auf, wie ein Relikt aus Stummfilmzeiten: „Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus allen nur Unglückliche.“

Erda (Tine Marie Fischer) kommt mit dem Fahrrad daher. Bild: Matthias Baus

Erda (Tine Marie Fischer) kommt mit dem Fahrrad daher. Bild: Matthias Baus

Es wird in dieser Stuttgarter Inszenierung weniger gehandelt, propagiert, anklagend erzählt oder erklärt als ein Diskurs geführt. So sollte man als Zuschauer gewissermaßen ein Seminar bei der schlauen Erda besucht haben, um sich dem intellektuellen Angebot zu stellen. Wagner für Fortgeschrittene. Es gab bei der Premiere auch kräftige Buhs für das Regieteam.

Andererseits: Es ist ein dann doch starkes Schauspielerstück geworden, sehr theatralisch, mit einem tollen Ensemble. Herausragend etwa Leigh Melrose als Alberich: als queerer, verzweifelt lustiger Entertainer wie aus „La Cage aux Folles“. Und er singt auch tapfer auf der Wurfscheibe – wenn der von Goran Juric auf Untergangsheldenmut gestimmte Wotan und der von Matthias Klink sehr kühl-verschlagen verkörperte Loge ihn quälend drehen. Pawel Konik und Moritz Kallenberg glänzen als kindische Turner-Götter Donner und Froh, David Steffens und Adam Palka sind die Gabelstabler fahrenden Science-Fiction-Riesen, Rachel Wilson ist die abgedreht schönheitssüchtige Freia, Elmar Gilbertsson als Mime ein ganz trauriger Clown.

Mit dem Hammer

Entsprechend malte auch Generalmusikdirektor Cornelius Meister mit dem Staatsorchester (top, aber einige Unsicherheiten im Blech) nicht einfach ein bruchloses Klanggemälde. Es ist eine tatsächlich theatralische Interpretation: detailgenau, so drastisch wie pointiert und mit maximalem Einsatz – in den Proszeniumslogen stehen vier Extra-Harfen fürs Finale bereit. Im eher laut und deutlich tönenden, wirklich nichts verweichlichenden Opernhaus dirigierte Meister in der Premiere weniger opulent als sängerdienlich fürs Musikdrama. Aber den Hammer holt er dann schon raus – beziehungsweise eine Clownsfigur schlägt am Ende auf der Bühne zu. Und dann rollt auch die ganz große mitreißende Wagner-Welle an. Großer Jubel.

Die Ausstellung „Winter-Bayreuth“

Wieland Wagner (1917–1966), Enkel des Komponisten Richard Wagner, machte Stuttgart in den 1950er und 1960er Jahren mit seinen Inszenierungen zu einem Zentrum der Wagner-Beschäftigung und zugleich zum Experimentierort für die Bayreuther Festspiele. Mit der Ausstellung „Winter-Bayreuth“ blickt das Stadtpalais – Museum für Stuttgart gemeinsam mit der Staatsoper zurück in diese Zeit und lädt in Wieland Wagners „Laboratorium“ ein: bis 13. Februar, Di-So 10 bis 18 Uhr.

„Das Rheingold“ steht wieder am 24. und 27. November auf dem Spielplan der Staatsoper Stuttgart. Die nächste „Ring“-Premiere mit der „Walküre“ ist auf 10. April 2022 terminiert. Dann inszenieren gleich drei Teams, Aufzug für Aufzug.

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Erstellt:
23.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 50sec
zuletzt aktualisiert: 23.11.2021, 06:00 Uhr

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