Tübingen · Frühgeschichte

Forscher: Neandertaler nutzten Mehrkomponentenkleber

Ein Forschungsteam der Universität Tübingen entdeckte Überreste an altem Steinwerkzeug.

22.02.2024

Von ST

Im Experiment wurde ein Steinwerkzeug in einen Griff aus flüssigem Bitumen unter Zusatz von 55 Prozent Ocker geklebt. Bild: Patrick Schmidt

Im Experiment wurde ein Steinwerkzeug in einen Griff aus flüssigem Bitumen unter Zusatz von 55 Prozent Ocker geklebt. Bild: Patrick Schmidt

Frühe Menschen aus dem heutigen Frankreich nutzten bereits vor mehr als 40.000 Jahren einen Klebstoff aus mehreren Komponenten, um Steinwerkzeuge mit Griffen zu versehen. Sie stellten eine ausgeklügelte Mischung aus Ocker und Bitumen her, zwei Rohstoffen, die aus der weiteren Region beschafft werden mussten. Es handelt sich um den bisher frühesten Fund eines Mehrkomponentenklebers in Europa. Das fanden jetzt ein Wissenschaftlerteam unter Tübinger Leitung heraus.

Die Steinwerkzeuge aus Le Moustier werden in der Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte aufbewahrt und waren bisher nicht näher untersucht worden. Der Schweizer Archäologe Otto Hauser hatte sie 1907 aus dem oberen Felsüberhang von Le Moustier geborgen, der während der mittelpaläolithischen Epoche des Moustérien vor 120.000 bis 40.000 Jahren von Neandertalern genutzt wurde. Bei einer internen Aufarbeitung des Sammlungsbestandes wurden sie wiederentdeckt und ihr wissenschaftlicher Wert erkannt.

Die Forscherinnen und Forscher entdeckten an mehreren Steinwerkzeugen, wie Abschlägen, Schabern und Klingen, Reste einer Mischung aus Ocker und Bitumen. Ocker ist ein natürlich vorkommendes farbiges Erdpigment. Das Kohlenwasserstoffgemisch Bitumen ist unter anderem Bestandteil von Asphalt, kann aus Erdöl hergestellt werden, kommt jedoch auch natürlicherweise im Boden vor. „Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag. Denn an der Luft getrocknetes Bitumen kann auch unverändert als Klebstoff genutzt werden und verliert durch Zugabe von solch großen Anteilen Ocker seine Klebeeigenschaften“, sagt Patrick Schmidt aus der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen. Das habe er mit seinem Team in Zugversuchen und mit experimentell hergestelltem Vergleichsmaterial getestet.

„Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet. Fügt man 55 Prozent Ocker hinzu, erhält man eine formbare Masse“, meint der Forscher. Die sei nur gerade so klebrig, dass ein Steinwerkzeug darin steckenbleibt, die Hände aber sauber bleiben – das Richtige also für einen Griff. „Eine mikroskopische Untersuchung der Gebrauchsspuren in Zusammenarbeit mit der New York University ergab, dass die Klebstoffe an den Geräten aus Le Moustier so verwendet worden sind“, berichten die Wissenschaftler.

Die Nutzung von Klebern mit mehreren Komponenten, darunter verschiedene klebrige Substanzen wie Baumharze und auch Ocker, sei bisher vor allem von frühen modernen Menschen, dem Homo sapiens, in Afrika bekannt gewesen. „Solche technologischen Entwicklungen und das Verständnis für Materialeigenschaften wurden auch als erster Ausdruck umfassender kognitiver Prozesse der Menschen betrachtet, die unserer heutigen Denkweise bei industriellen Prozessen entsprechen“, so Schmidt.

Wo die Neandertaler die Komponenten fanden

In der Region von Le Moustier mussten Ocker und Bitumen aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen werden, das bedeutet großen Aufwand, erfordert Planung und eine gezielte Vorgehensweise. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass das aufwändig produzierte Klebematerial von Neandertalern hergestellt wurde. Die Studie zeige, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widergespiegelt hätten. Die verschiedenen Klebstofftechnologien hätten die gleiche Bedeutung für das Verständnis von der Menschwerdung.

Zum Artikel

Erstellt:
22.02.2024, 17:59 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 32sec
zuletzt aktualisiert: 22.02.2024, 17:59 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!