Stuttgarter Krawallnacht
Super-Recogniser – der Wiedererkenner
Michael Aschenbrenner wusste lange nicht, welche besondere Fähigkeit er hat. Nun setzt er sie für die Polizei ein – etwa nach der Stuttgarter Krawallnacht.
Eher durch Zufall fand die Wissenschaft vor wenigen Jahren heraus, dass es Menschen gibt, die Gesichter nicht vergessen oder auf noch so verschwommenen Fotos Menschen wiedererkennen können. Im Kampf gegen Verbrechen kann das nützlich sein. Polizisten werden geflutet mit verwackelten Fahndungsfotos und dunklen Bildern aus Überwachungskameras, auf denen nur Konturen zu erkennen sind. Dann kommt Michael Aschenbrenner ins Spiel. Er koordiniert rund 50 Super-Recogniser allein im Polizeipräsidium Stuttgart. Sie können Gesichter von Verdächtigen nicht nur auf Bildern identifizieren, sondern auch in Menschenmassen besonders gut wiedererkennen.
Was ein wenig nach Superheldencomics und actionreichem Abenteuer klingt, gestaltet sich im Alltag als eher dröge Tätigkeit. Michael Aschenbrenner sitzt in seinem Büro im Präsidium und blickt in den Rechner. An der Wand hängt ein Zertifikat der Londoner University of Greenwich, das ihn als Super-Recogniser auszeichnet. Ansonsten: graue Wände, graue Möbel, graues Hemd. Nur die Fahndungsfotos auf den Bildschirmen leuchten bunt. Aschenbrenners Augen zucken zwischen den Bildern hin und her, er gleicht sie ab mit den Fotos aus dem Archiv. „Irgendwann brennen die Augen“, sagt er. Trotzdem liebt er seinen Job. Das liegt auch am Erfolg der jungen Spezialisten-Truppe.
Das baden-württembergische Innenministerium setzt immer mehr auf die Super-Recogniser. Beamte mit dieser Begabung sollen künftig flächendeckend an allen Polizeipräsidien im Land eingesetzt werden. „Dieses Potenzial wird uns helfen, mehr Kriminelle zu identifizieren“, sagte Innenminister Thomas Strobl (CDU) im Frühjahr. Mittlerweile kann jeder Polizeischüler sich auf die Begabung testen lassen. Die Londoner Polizei hat bereits vor Jahren eine Einheit aufgestellt, auch die Polizei in Hessen und Bayern nutzt die Wiedererkenner.
Eine ganz ähnliche Arbeit macht Friedrich Rösing aus Blaubeuren im Alb-Donau-Kreis. Der 77-jährige Professor ist einer der wenigen forensischen Anthropologen in Deutschland. Rösing hilft in Gerichtsprozessen, Täter auf Fotos zu identifizieren und damit zu überführen. Eine Konkurrenz durch die Menschen mit dem angeborenen Talent fürchtet er nicht. Vor Gericht brauche es weiterhin den forensischen Anthropologen, sagt Rösing. Im Gegensatz zu Aschenbrenner geht Rösing wissenschaftlich-methodisch vor, er hangelt sich an 260 Merkmalen entlang: Steht das Ohr ab? Hängt der Nasenboden?
Bei Aschenbrenner hingegen macht es einfach „Klick“ – dann weiß er, dass er ein Gesicht schon mal gesehen hat. So wie bei der Polizeiübung in Stuttgart, als er zufällig ein Gesicht in der Menge entdeckte, bei dem es „Klick“ machte. Die Übung wurde spontan zum „Echtfall“. Er und seine Kollegen nahmen einen Mann fest, der wegen eines Drogendelikts gesucht wurde. Um sich Gesichter zu merken, ordnet er ihnen Eigenschaften zu oder assoziiert sie mit einem guten Freund oder einem Schauspieler. Sein Talent ist aber auf den visuellen Bereich beschränkt. „Namen“, sagt er, „kann ich mir überhaupt nicht merken.“
140 Tatverdächtige gibt es im Zusammenhang mit der Stuttgarter Krawallnacht 2020 bisher. Etwa jeder Zweite wurde von Super-Recognisern der Polizei wiedererkannt. - dpa