Das Dada der Dinge

Das Rockfigurentheater gastierte in Börstingen

Beim Warten vor der Aufführung treten aus dem Halbdunkel der Bühne rätselhafte Dinge hervor, die in einer rätselhaften Anordnung sich präsentieren. Ist das etwa eine Guillotine? Später wird sich zeigen, es ist ein Glockenturm. Ein Strohhut steht dort, eine Fellmütze, ein Schiff, eine Eisenbahn und ein Puppentheater..

23.06.2016

Von Fred Keicher

Börstingen.

Dort erwacht jemand aus dem Schlaf und greift nach dem Traumtagebuch. Geträumt hat er von „Reintoten“, denen er sofort hellwach die „Unreinlebenden“ gegenüberstellt. Und wie das so ist mit den abstrakten Gegensätzen: Sie bröckeln, verwischen sich. Ganz in Weiß gekleidet schreitet, springt, tanzt Christel Johanna Witte über die Bühne, eine Puppenstube zweckentfremdeter Dinge, und zelebriert ihren privatsprachlichen Monolog. Irgendwie führt das zu Nichts. „Viele sterben einfach so, ohne in den Spiegel ihrer Seele geschaut zu haben“, klagt sie. War da wirklich jemand? War da überhaupt ein Spiegel? Oder ging es nur darum, „Raum zu schaffen für den Stoß der Tiefe“?

Links auf der Bühne steht Reinhard Hofmann mit seinem E-Bass, der rockige Teil des Figurentheaters. Er nimmt den Monolog auf, singt ihn nach, moduliert ihn und setzt oft harte Riffe dagegen. Der musikalische Purist hat zwei schrankgroße Verstärker der ersten Generation mitgebracht, die mittels Load Boxes auf Klassenzimmerstärke herabgedämpft werden. Denn der Kunstort Eleven ist das alte Börstinger Schulhaus, der Aufführungsort war früher tatsächlich ein Klassen zimmer.

Nach einer langen Umbaupause folgte „Strich I / Strich II“. Nach der Logik des Gegensatzes hätte Hofmann jetzt unverstärkt Kontrabass spielen sollen. Allein der Geigenbogen ist zerbrochen. Es bleibt beim E-Bass. Überhaupt spielen jetzt andere Dinge ihre Rolle oder brechen aus ihr aus. „Die Dinge wollen selbständig sein“, hören wir. Ein Schuhmacher-Amboß wird zum Zinsfuß, ein Zug fährt ab in Hannover um 16.71 Uhr. Eine Wasserwaage wird zum Sonnenlichtkatheder. Und alles endet im „Land der goldenen Rückkehr, wo du ganz sein kannst“.

Wehe dem, der Symbole sieht, möchte man rufen. Aber da gibt es einige Szenen, die nicht vom Ort kommen, wo der Tiefsinn wohnt. Witte macht aus einem Fußball ein Gesicht. Das geht nicht ohne Gewalt. Sie drückt ihm mit den Fingern die Augenhöhlen ein. Der Mund ist mit einer hellen Zickzacknaht markiert. Und dann stößt sie eine lange Nadel über den Augen durch den Kopf, hängt ein beiden Seiten Fäden, fertig sind die Augenbrauen.

Eine nette Rolle spielt auch ein arg ramponierter Vogel, ein Geier mit angebrannten Flügeln. Die Schauspielerin lässt ihn fliegen, sagt: „Du liegst mir hart auf der Klitoris“ und stößt orgiastische Töneaus, die wie Raubvogelrufe klingen. Oder umgekehrt. Oder ganz anders.

Auch wenn sich das Rockfigurentheater oft im Sog der Tiefe verirrt – wenn es den Dingen ihren Lauf lässt, dann ist es wirklich großartig. An die zwanzig Besucher sind ins Börstinger Schulhaus gekommen. Sie danken mit artigem Applaus.

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Erstellt:
23.06.2016, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 19sec
zuletzt aktualisiert: 23.06.2016, 01:00 Uhr

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