Fußball

Das Land des Gastgebers bringt sich in WM-Form

Mit der Gruppenauslosung geht die Vorbereitung der Weltmeisterschaft auf die Zielgerade. Die Massensportart erlebt in Russland einen Boom.

01.12.2017

Von STEFAN SCHOLL

Russlands Talente von morgen: Unter der Anleitung des früheren Nationalspielers Oleg Sinelobow (hinten Mitte) trainieren die Nachwuchsspieler in Fußballakademie Schukowka vor den Toren Moskaus. Foto: FAS

Russlands Talente von morgen: Unter der Anleitung des früheren Nationalspielers Oleg Sinelobow (hinten Mitte) trainieren die Nachwuchsspieler in Fußballakademie Schukowka vor den Toren Moskaus. Foto: FAS

Moskau. Zwei Jungs tragen das weißrote Trikot der Fußballakademie Schukowka, einer den rotblauen Streifen-Dress des FC Barcelona. Die Elf- und Zwölfjährigen lassen den Ball mit sauberen Pässen über den dunkelgrünen Kunstrasen laufen. „Eigentlich gehören zehn Kinder zur Trainingsgruppe“, sagt Sergei Gorbunow, der Leiter der Akademie. „Aber heute sind nur drei da, die meisten sind wohl im Stau hängen geblieben.“ Der erste Schneesturm des Jahres hat im Großraum Moskau Verkehrschaos verursacht. Der russische Winter scheint kein Freund des russischen Fußballs zu sein. Auch wenn in einer geheizten Halle im elitären Moskauer Vorort Schukowka gespielt wird.

Sergei, 35, erzählt, viele seiner insgesamt 160 Jungkicker im Alter zwischen drei und 16 Jahren würden von Fahrern oder Kindermädchen zum Training gebracht. In Schukowka wohnen Millionäre, auch Milliardäre, Staatschef Wladimir Putin residiert in der Nähe. In den Nachbarhallen wird Tennis gespielt, geboxt, geturnt, unter Moskaus Reichen ist auch Fußball wieder in Mode. „Es kommen oft Eltern und fragen“, sagt Sergei, „ob wir aus ihrem Kind einen Profispieler machen können.“

Zwölf zweistündige Trainingseinheiten im Monat kosten hier umgerechnet 290 Euro, in der russischen Provinz ein Lehrergehalt, in Moskau aber zahlen auch Mittelstandsfamilien solche Summen für das Eiskunstlauftraining ihres Nachwuchses. Sport gilt als realer Karrierelift. Fußball aber ist auch in Schukowka Fußball. „Wir vermitteln den Kindern die Grundlagen: den Ball sauber annehmen und spielen, die richtigen Entscheidungen im Angriff und in der Verteidigung treffen“, sagt Cheftrainer Oleg Sinelobow, 55, usbekischer Ex-Nationalspieler und sowjetischer Meister des Sports. Mehrere seiner Zöglinge hätten das Zeug, um die Aufnahmeprüfungen zu den Fußballschulen großer Moskauer Profiklubs wie Spartak oder ZSKA zu bestehen. „Aber unsere Hauptaufgabe ist, allen, auch denen, die dort nicht landen, einzuimpfen, dass Fußball ein Mannschaftssport ist, dass alle zusammenhalten müssen und auf dem Platz einer dem anderen hilft.“

Russland veranstaltet die Fußball-WM 2018, heute geht mit der Auslosung der Gruppen die Vorbereitung des Turniers in die Zielgerade. Noch sind viele Stadien im Bau, kritische Medien fürchten, dass vor allem die Arenen in Kaliningrad und Samara nicht rechtzeitig fertig werden. Laut dem Fernsehsender TV Doschd wurde in Samara zuerst ein Einkaufszentrum errichtet, deshalb verzögerten sich dort auch diverse Hotelbauten. Und an mehreren Spielorten beklagen sich Studenten, dass sie vor der WM ihre Wohnheime räumen müssen, weil dort Einsatzpolizisten untergebracht werden sollen.

Andererseits hat der Confed-Cup diesen Sommer gezeigt, dass das von vielen befürchtete Chaos bei der WM kaum eintreten wird. Damals wurde selbst die korruptionsumwitterte Dauerbaustelle der Arena in Sankt Petersburg fristgerecht fertig, wenn auch ohne direkten U-Bahn-Anschluss. Der umstrittene elektronische „Fan-Pass“ funktionierte: Ausländer konnten mit einem Ticket visafrei einreisen und zwischen den Spielorten kostenlose Züge nutzen. Statt der vor allem von englischen Medien erwarteten Attacken russischer Hooligans erlebten sie mehrere fröhliche Fußballfeste. „Auch unter Russlands Fans gibt es Schläger“, sagt Aleksei Lebedew, Sportchef der Zeitung Moskowksi Komsomolze, „aber Gewaltszenen wie bei der EM in Marseille werden wir nicht erleben. Unsere Sicherheitsorgane haben die Anführer schon jetzt an der Kandare.“

Der Fußball boomt schon vor der WM. „Vor fünf Jahren noch war Fußball in Russland vor allem Straßenfußball“, Sergei hat die Fußballakademie in Schukowka vor eineinhalb Jahren eröffnet, jetzt denkt er daran, an der Noworischskaja Chaussee und in Krasnogorsk zwei weitere Filialen zu gründen. Im Moskauer Stadtgebiet, aber auch in den Neubauvierteln von Tscheljabinsk oder Tscheboksary werden immer mehr Kunstrasen- und Tartanteppiche für Kleinfelder ausgelegt.

Seit 2006 sind nach offiziellen Angaben 1900 Stadien und 26?000 wettkampftaugliche Fußballplätze neu entstanden, die Zahl erwachsener und jugendlicher Kicker stieg von 1,6 auf 2,7 Millionen. Sport gehört zu den wenigen Bereichen in Russland, in die der russische Staat großzügig Geld steckt. Warum die Kinder in Schukowka Fußball spielen? „Weil es uns gefällt“, lautet die einfache Antwort. Und der pausbäckige Matwei, der im Sturm spielt, sagt, er wolle einmal Profi werden. „Natürlich nicht in Madrid oder Barcelona“, Matwei versucht, seine Träume in Zaum zu halten, „eher in Valencia.“ Und alle freuen sich auf die WM, auch ihr Trainer Sinelobow: „Bei uns muss man niemand mit Gewalt ins Stadion treiben, um unsere Mannschaft anzufeuern.“

Oppositionelle warnen

Trotzdem schwant manchen Oppositionellen wieder das Böseste: Der Kreml werde bei der WM wie bei den Olympischen Spielen in Sotschi alles daran setzen, um einen russischen Sieg hinzukriegen, schreibt der Soziologe Igor Eidman auf Facebook. Da im Fußball Doping wenig helfe, werde man die Stürmer und Torhüter der gegnerischen Mannschaft dosiert vergiften, damit sie für einige Stunden außer Form gerieten. „Die russischen Geheimdienste besaßen immer erstklassische toxikologische Laboratorien.“

Für die Kinder in Schukowka aber haben Sport und Politik noch nichts miteinander zu tun. Sie halten zum Teil statt für Russland zu Portugal – wegen Ronaldo. Matwei, der Stürmer, will nicht ausschließen, dass es die russische Mannschaft doch bis ins Finale schafft. „Nur dürfen sie vorher nicht auf Argentinien oder Brasilien treffen. Weil gegen Messi oder Neymar haben sie keine Chance.“ Echte Fußballer sind keine Hurrapatrioten.

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Erstellt:
01.12.2017, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 37sec
zuletzt aktualisiert: 01.12.2017, 06:00 Uhr

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