Tübingen · Vortagsbäcker

Das Brot ist von gestern, das Konzept nicht

Mit „Second-Hand-Brot“ gegen Lebensmittelverschwendung: Ein kleiner Laden in der Froschgasse bietet seit 23 Jahren Backwaren vom Vortag an.

21.08.2019

Von Felix König

Volle Regale auf beengtem Raum: Verkäuferin Anna Bünsow bedient ihre Kunden.Bild: Anne Faden

Volle Regale auf beengtem Raum: Verkäuferin Anna Bünsow bedient ihre Kunden.Bild: Anne Faden

Zu uns kommen alle: Studenten, Professoren, Ärzte, Rentner – definitiv nicht nur die typische Tübinger Alnatura- und E-Bike-Fraktion“, verrät Amelie Winter. Die 24-jährige Studentin arbeitet in ihren Semesterferien in dem Laden „Backwaren vom Vortag“, den aber niemand in Tübingen so nennt: „Alle sagen ‚Vortagsbäcker‘, manche auch ‚Second-Hand-Bäcker‘, das finde ich auch ganz nett“, sagt sie. Das unscheinbare, nur wenige Quadratmeter große Ladengeschäft in der Froschgasse, das seit 1996 besteht, hat sich längst zu einer festen Institution entwickelt.

Das Konzept ist denkbar einfach: Backwaren, die ansonsten weggeworfen würden, werden weiterverwendet. Dabei handelt es sich – entgegen dem Namen des Ladens – nicht ausschließlich um Übriggebliebenes vom Vortag. Häufig wird auch frische Ware mit handwerklichen Mängeln verkauft, beispielsweise Laugenbrezeln mit Bläschen oder Croissants ohne Krümmung. Solche Produkte sind dann besonders begehrt: „Manche Stammkunden fragen jeden Tag gezielt nach, ob es irgendetwas Verunglücktes gibt“, erzählt Winter.

Die Produkte werden von der Bäckerei Gehr aus Tübingen, der Bäckerei Schmid aus Gomaringen und der Bäckerei Saur aus Horb zu jeweils individuellen Konditionen eingekauft. Dort werden die Waren abgeholt und anschließend für höchstens die Hälfte des Ursprungspreises (in der Regel noch günstiger) weiterverkauft. Das Grundkonzept ist seit der Eröffnung nahezu unverändert geblieben. Lediglich die Besetzung ist größer geworden, weil die Nachfrage gestiegen ist.

Je früher am Tag, desto größer ist die Auswahl an Backwaren. Insbesondere vormittags bildet sich deshalb regelmäßig eine lange Schlange vor dem Laden. „15 Minuten Wartezeit sind hier vollkommen normal, das gehört quasi dazu“, so Winter. „Die Nachfrage ist ja offensichtlich vorhanden, deshalb finde ich es sehr schade, dass es das Konzept des Vortagsbäckers nicht häufiger gibt“, beklagt ein Kunde.

Besonders gefragt sind Franzbrötchen sowie Dinkelprodukte aller Art, berichtet Winter. Wie viel an einem Tag verkauft wird, lässt sich nicht in feste Zahlen fassen, sondern ist immer abhängig davon, welche Produkte gerade im Laden geboten und bei den Kunden gefragt sind. Im Winter läuft das Geschäft besser als zur Urlaubszeit im Sommer. Gegen Abend ist die Auswahl an Produkten dann meist schon sichtlich ausgedünnt. Dennoch bleiben häufig auch nach Ladenschluss um 20 Uhr immer noch Backwaren übrig, insbesondere bei Ausschussware, die in großen Mengen vorhanden ist.

Brot von vorgestern wird aber trotzdem nicht mehr verkauft: Was auch beim Vortagsbäcker keinen Käufer findet, geht zur Endverwertung an Bauern.

Die Inhaber des Ladens teilen die Verantwortung untereinander auf: Reinhard und Nora Sonnberger aus Oberndorf-Hochmössingen – die seit März einen eigenen Altbrotladen in Schramberg betreiben – wechseln sich bislang alle vier Monate mit dem Tübinger Uwe Knorr in der Leitung ab. Die Mitarbeiter sind in erster Linie Studenten, die als Aushilfen auf Minijob-Basis arbeiten. Bäckereifachverkäufer oder Vollzeitmitarbeiter gehören nicht zum Konzept. „Die Arbeit macht Spaß, die Atmosphäre unter den Mitarbeitern ist entspannt“, sagt Winter. Auch im Kontakt mit den Kunden komme es immer wieder zu unterhaltsamen Situationen: „Neulich hat eine Kundin gefragt, ob im Roggensaftbrot denn Saft drin sei – das war wirklich lustig“, erzählt die Studentin lachend.

Etwas gegen die Lebensmittelverschwendung zu tun und dabei noch Geld zu sparen, das kommt bei der Kundschaft offensichtlich gut an. Schade, dass dieses Erfolgsmodell nicht auch bei anderen Verschwendungen funktioniert.

Der Lebensmittelverschwendung den Kampf ansagen

11 Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland laut einer Studie der Uni Stuttgart jedes Jahr im Müll. Ein Teil davon ist auf eine Überproduktion von Backwaren zurückzuführen. Um ihren Kunden stets volle Regale bieten zu können, stellen viele Bäckereien größere Mengen her, als sie tatsächlich verkaufen. Nach Ladenschluss bleiben also oftmals Waren übrig, die weggeworfen werden. Um dieser Verschwendung entgegenzuwirken, gibt es immer mehr Läden, die übriggebliebene Backwaren von Bäckereien einsammeln und günstiger weiterverkaufen. Noch problemlos genießbare Lebensmittel, die ansonsten im Müll landen würden, werden auf diese Weise weiterverwendet.

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Erstellt:
21.08.2019, 18:56 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 59sec
zuletzt aktualisiert: 21.08.2019, 18:56 Uhr

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