Corona

Daheim beweglich und gesund bleiben

Wer nicht mehr oder kaum noch das Haus verlässt, baut körperlich rasch ab. Der Sportmediziner Andreas Nieß und der Sportwissenschaftler Ansgar Thiel haben dagegen ein Online-Programm entwickelt.

15.04.2020

Von Gernot Stegert

So sehen Übungen zum Fitbleiben im Video aus. Screenshot: Institut für Sportwissenschaft/Abteilung Sportmedizin der Uniklinik Tübingen

So sehen Übungen zum Fitbleiben im Video aus. Screenshot: Institut für Sportwissenschaft/Abteilung Sportmedizin der Uniklinik Tübingen

Die Universitätsstadt Tübingen, der Stadtseniorenrat, der Kreisseniorenrat und das Deutsche Rote Kreuz im Kreis Tübingen haben alle Personen ab 65 Jahren und alle Risikogruppen dazu aufgerufen, aufgrund der Corona-Pandemie zu Hause zu bleiben. Denn statistisch steigt die Wahrscheinlichkeit eines schweren Krankheitsverlaufs mit dem Lebensalter. Doch Bewegung ist für die Gesundheit nötig – für Jung wie Alt. Der Sportwissenschaftler Prof. Ansgar Thiel und der Sportmediziner Prof. Andreas Nieß empfehlen nicht nur dringend, sich fit zu halten. Ihre Einrichtungen haben auch ein gemeinsames Online-Bewegungsprogramm entwickelt und dafür Video-Anleitungen produziert. Thiel ist Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Tübingen, Nieß Ärztlicher Direktor der Abteilung Sportmedizin des Universitätsklinikums Tübingen.

Haben Sie sich heute schon bewegt?

Nieß: Leider noch nicht, ich habe aber für den Abend gute Vorsätze.

Thiel: Ja, wie jeden Morgen 25 Minuten Fitness und dann noch in der Mittagspause einen langen Spaziergang mit meiner Frau.

Um sich vor einer Corona-Infektion zu schützen, müssen Menschen ganz oder überwiegend zuhause bleiben. Damit fällt auch der regelmäßige Sport aus, sei es die Gymnastikgruppe für Senioren, der Tanz, das Fitnessstudio, der Ballsport oder was auch immer. Warum ist das gefährlich? Und für wen besonders?

Thiel: Langfristig erhöht körperliche Inaktivität das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, teilweise Krebs und auch für weitere Erkrankungen. Doch bereits kurzfristig, also schon nach mehreren Tagen, können sich wichtige Gesundheitswerte und Körperfunktionen aufgrund von Inaktivität verschlechtern. Dies ist insbesondere für ältere Menschen relevant, weil sie sich noch schwerer tun als junge Menschen, das danach wieder zurückzudrehen.

Können Sie ein Beispiel geben?
Nieß: Den Skelettmuskel. Körperliche Inaktivität führt sehr rasch, innerhalb von Tagen zu einem Verlust der muskulären Funktion, wobei das Zusammenspiel von Nervensystem und Muskelfaser ebenso wie die Muskelmasse leiden. Beim älteren Menschen kann dies leider sehr rasch relevante funktionelle Folgen haben, von rascher Erschöpfung bei Alltagsverrichtungen bis hin zu einem erhöhten Sturzrisiko.

Neben dem Verhindern von Krankheit oder Einschränkungen: Gibt es auch positive Beweg-Gründe?
Thiel: Sport wirkt sich positiv auf die Stimmungslage aus. Hierfür ist unter anderem die Steigerung der Selbstwirksamkeit verantwortlich. Regelmäßiger Sport fördert die Überzeugung, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Sport fördert bei moderater Dosierung aber auch die Immunfunktion.

Nieß: Allerdings ist das nicht so zu verstehen, dass regelmäßige Aktivität direkt vor einer Infektion mit dem Coronavirus schützt und man die Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung eines Kontakts mit dem Virus als aktiver Mensch weniger beachten muss. Wovon man allerdings ausgehen kann, ist, dass eine gute Fitness dem Körper hilft, einer einmal eingetretenen Infektion besser zu entgegnen und diese auch eher zu tolerieren. Und da spielt ein „fittes“ Immunsystem eine wichtige Rolle.

Oft werden Vorsätze gefasst, ein- oder zweimal umgesetzt – und dann erschlaffen sie wie ein untrainierter Muskel. Was tun? Wie motiviert man sich auf Dauer?
Thiel: Man darf sich am Anfang nicht zu viel vornehmen. Also eher langsam anfangen mit kleinen und kürzeren Übungen und nicht übertreiben. Dann sollte man die Übungen fest in den Tagesplan einbauen, also möglichst immer zur selben Zeit und anfangs sogar am selben Ort körperlich aktiv sein. Und geben Sie sich jeden Abend eine kleine Belohnung dafür, dass Sie sich an ihre Vorsätze gehalten haben.

Was kann jemand tun, der sich fast gar nicht bewegt? Wie anfangen?
Nieß: Alltagsbelastungen wie das Gehen sind immer eine gute Grundlage, die auch gut dosierbar sind. So sollte man sich zum Beispiel jede halbe Stunde erheben und 5 Minuten umhergehen. Wenn man nicht aus der Wohnung kann, dann sollten am Tag mindestens 5000 Schritte in der Wohnung zurückgelegt werden. Die Schrittzahl kann recht einfach mit Apps auf dem Handy überprüft werden. Mindestens jeden zweiten Tag, besser täglich sollte eine jeweils ca. 15-minütige Gymnastikeinheit eingelegt werden.

Thiel: Hierfür bieten sich zum einen einfache Streck- und Beugeübungen ohne Last und langsame Drehbewegungen an. Mobilisiert werden sollten Arme, Beine und Rumpf. Und das Gleichgewichtstraining sollte nicht vergessen werden, zum Beispiel durch Zähneputzen auf einem Bein. Bei eher wenig fitten Menschen ist das schon ein sehr wirksames Trainingsprogramm.

Nieß: MitarbeiterInnen unserer Einrichtungen haben dafür aber auch gute Beispielübungen mit dem Einsatz des eigenen Körpergewichts in einer videobasierten Anleitung zusammengestellt.

Wie kann man sich steigern?
Nieß: Zum einen, indem man die Bewegungsausführung intensiviert, also etwas beschleunigt und/oder die Wiederholungszahl pro Übungen oder die Dauer des gesamten Übungsprogramms schrittweise steigert. Wichtig ist, dass die empfohlenen Übungen ohne Beschwerden durchgeführt werden können. Führt eine Bewegungsform zu Schmerzen oder Unwohlsein, sollte man ihre Intensität verringern oder, wenn das nicht hilft, auch ganz weglassen und andere Bewegungsformen ausprobieren.

Was sind typische Fehler?
Thiel: Zu großer Aktionismus und eine zu rasche Steigerung des Trainings. Es macht in der aktuellen Lage keinen Sinn, mit sehr anstrengenden und komplizierten Übungen zu beginnen, deren Ausführung man nicht gewachsen ist. Das kann zu Verletzungen oder Überbeanspruchung führen.

Sie haben die Idee zu Video-Anleitungen zum Sporttreiben in CoronaZeiten gehabt. Wie kam es dazu?
Thiel: So sinnvoll Maßnahmen wie der Aufruf „Stay home“ in der gegebenen Situation auch sind, sie bergen halt auch Gefahren. Wir haben uns deshalb überlegt, wie man Fitness bestmöglich erhalten kann, auch wenn man zuhause bleiben muss, oder wie man diese Zeit sogar als Chance ergreifen, fitter zu werden. Und da wir unsere Sitzungen und Lehrveranstaltungen an der Universität gerade auch online durchführen müssen, war es naheliegend, auch Bewegungsprogramme online anzubieten.

Für wen sind die Videos gemacht?
Nieß: Diese Videos wurden im Zusammenhang mit dem Aufruf der Stadt Tübingen für Ältere erstellt. Sie richten sich dabei primär an Personen, die infolge der aktuellen Situation nicht ihren gewohnten sportlichen Aktivitäten nachgehen können oder die bisher schon eher wenig aktiv waren. Die Übungen sind jedoch auch für jüngere oder fittere ältere Menschen als Trainingsprogramm für zuhause empfehlenswert. Sie können dann individuell intensiver und umfangreicher dosiert und somit an den eigenen Fitnessstand angepasst werden.

Wo sind sie zu sehen?

Nieß: Über den Link https://www.medizin.uni-tuebingen.de/sportmedizin/?id=trz. Wir werden in den nächsten Tagen
weitere Videos über die Seiten
des Hochschulsports und des Instituts für Sportwissenschaft bereitstellen. Privatbilder

Andreas Nieß

Andreas Nieß

Ansgar Thiel

Ansgar Thiel

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Erstellt:
15.04.2020, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 10sec
zuletzt aktualisiert: 15.04.2020, 01:00 Uhr

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