Der Vortrag im Wortlaut

Christiane Nüsslein-Volhard: „Grenzen und Potentiale der modernen Genforschung“

Die Tübinger Nobelpreis-Trägerin Christiane Nüsslein-Volhard sprach bei der Eröffnung der Ausstellung „Pioniere des Wissens“ über die moderne Genforschung. Wir dokumentieren ihren Vortrag hier im Wortlaut.

06.10.2023

Von Christiane Nüsslein-Volhard

Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard. Archivbild: Anne Faden

Prof. Dr. Christiane Nüsslein-Volhard. Archivbild: Anne Faden

Die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genetik, besonders die neuen Methoden der gezielten Genveränderung durch das CRISPR/Cas9 Verfahren dienen nicht nur dem Erkenntnisgewinn, sondern sie eröffnen auch neue Möglichkeiten der Einflussnahme auf das Leben des Menschen. Darüber hinaus regen sie zu Spekulationen und Fantasien an, die, sollten sie Wirklichkeit werden, unsere Welt entscheidend verändern würden. Ich möchte in meinem Vortrag zunächst die Grundlagen dieser modernen Gentechnik erklären und begründen, dass für eine Anwendung beim Menschen die Risiken hoch sind, während sie für die Züchtung von Nutzpflanzen ein großes Potential darstellt.

Zunächst ein kurzer Abriss der Geschichte der Genforschung:

Klassische Genetik:

Was ist ein Gen? Gene sind diskrete Einheiten, die die Merkmale aller Lebewesen, der Pflanzen, der Tiere bestimmen. Sie wurden zunächst ganz abstrakt als erbliche Faktoren postuliert, ohne damals zu wissen, was ihre physikalische Natur ist. Gregor Mendel zeigte, dass die Erbträger der Merkmale, später Gene genannt, in einem Organismus doppelt vorhanden sind, gleichwertig einmal von der Mutter und einmal vom Vater. Sie werden unabhängig voneinander über die Keimzellen - die Eizelle sowie die Spermien (Pollen bei Pflanzen) - an die nächste Generation weitergegeben.

Molekulare Genetik:

Woraus sind Gene? Gene bestehen aus DNA, Desoxyribonukleinsäure, ein Fadenmolekül mit vier Bausteinen, die organischen Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Der DNA- Faden besteht aus zwei gegenläufigen Strängen, die zu einander komplementär sind. Das heißt, dass die Reihenfolge der Basen des einen Strangs eindeutig der des anderen entspricht (A in einem bedeutet T im anderen Strang, entsprechendes gilt für G und C). Damit lässt sich die identische Verdoppelung der Gene, die bei jeder Zellteilung stattfindet, erklären: die Stränge trennen sich und an jedem Einzelstrang wird eine komplementäre neue Kopie angelegt.

Wie wirken sie? Die Reihenfolge der Basen bedingt in verschlüsselter (kodierter) Form die Zusammensetzung von Proteinen. Diese sind aus zwanzig verschiedenen Bausteinen (Aminosäuren) aufgebaut. Zur Synthese dieser Proteine wird die DNA zunächst in eine einzelsträngige messenger Ribonukleinsäure, mRNA kopiert, die als Matrize dient. Jeweils drei Basen der RNA bestimmen eine Aminosäure im Protein. Das nennt man den genetischen Kode. Es sind die Proteine, also die Genprodukte, nicht die Gene selbst, die die eigentlichen Bau- und Wirkstoffe der Zellen darstellen, und die letztendlich die Eigenschaften bedingen, die das Leben ausmachen. Die Proteine können sich je nach Genvariante mehr oder weniger unterscheiden, und sie können mehr oder weniger gut funktionieren. Es ist also nicht so, dass Menschen sich darin unterscheiden, ob sie ein bestimmtes Gen haben oder nicht, sondern in welchen Varianten (Allelen) dieses Gen vorliegt und wie aktiv es ist, das heißt wieviel des Proteins, für das es kodiert, hergestellt wird, zu welchem Zeitpunkt und in welchen Zellen.

Die Aufklärung der Struktur der Gene und ihrer Wirkungsweise über mRNA und Proteinsynthese wurde nach der Entdeckung der DNA-Struktur 1953 in den 60iger und 70ziger Jahren hauptsächlich an Bakterien und deren Viren, sogenannten Bakteriophagen, durchgeführt. Diese haben wenig Gene und einfache Strukturen, während Tiere und Pflanzen viele Gene und sehr große Genome haben. Die Gene der Organismen lernte man dadurch kennen, dass man „Mutanten“ erzeugte, in denen ein Gen so verändert war (meistens inaktiviert), dass es seine Funktion nicht mehr erfüllen konnte. Das Erscheinungsbild, der Phänotyp solcher mutanter Tiere oder Pflanzen sagt etwas über die Funktion des Gens im Organismus aus wie zum Beispiel die Blütenfarben der Erbsen von Mendel, oder die kurzen Beine des Dackels. Man hat mit solchen genetischen Analysen viel über die Komplexität und die Logik von Lebensprozessen gelernt. Allerdings war es mit den klassischen Methoden der Genetik nicht möglich, die Brücke zu schlagen zu der eigentlichen Funktion, zum Genprodukt, dem Protein. Das wurde erst durch die Entwicklung der Gentechnik möglich.

Gentechnik:

Etwa zu Beginn der 80er Jahre wurden Enzyme entdeckt, die es erlauben, einzelne DNA-Abschnitte aus höheren Organismen mit der DNA von Bakterien zu verknüpfen, in einzelne Bakterien zu bringen und in diesen zu vermehren (zu „klonieren“). Mit einem eleganten Verfahren (PCR- Polymerase Chain Reaction genannt) lassen sich kürzere DNA-Abschnitte sogar in vitro (also ohne Zelle) vermehren. Damit kann vergleichsweise leicht ein bestimmtes Gen oder ein Abschnitt aus einem Gen aus Tier oder Pflanze in hoher Kopienzahl isoliert werden. In solchen reinen Populationen von relativ kurzen DNA Stücken konnte mit neuen Technologien die Reihenfolge der Basen bestimmt und mit Hilfe des genetischen Kodes die Proteinzusammensetzung abgelesen werden. Die Zusammensetzung der Proteine ist es auch eigentlich, die man mit Hilfe der Gentechnik herausbekommen möchte, da die direkte Proteinanalyse viel schwieriger ist als die Genanalyse. Auf diese Weise sind viele Gene aus Modellorganismen, aber auch dem Menschen isoliert worden. Hat man die einzelnen Gene isoliert, so lassen sich die dazugehörigen Proteine in Bakterien, Hefe, Zellkulturen oder auch Nutztieren wie Schafen in großem Maßstab herstellen. Man macht sich dabei die Maschinerie der Proteinsynthese der Wirtszellen zu nutze. Seltene Proteine, zum Beispiel Hormone, Blutfaktoren, Enzyme und Antikörper können so in besonders reiner Form und in großen Mengen gewonnen werden, ohne sie aus tierischem oder menschlichem Gewebe isolieren zu müssen. Hierin liegt einer der großen medizinisch bedeutenden Anwendungsbereiche der Genforschung. Bereits vor mehr als 30 Jahren wurden Verfahren zur gentechnischen Herstellung von verschiedenen menschlichen Proteinen entwickelt, diese haben hochspezifische Wirkungen im menschlichen Körper und sind mit geeigneten Modifikationen außerordentlich erfolgreiche Pharmaka geworden, die segensreich für viele Kranke sind, und auch den Unternehmen hohe Gewinne bescheren.

Durch die molekularen Analysen vieler Gene in Modellorganismen und dem Menschen und deren Vergleich wurde bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts deutlich, dass es einen hohen Grad der Verwandtschaft zwischen Genen verschiedener Tiere gibt. Diese Verwandtschaften bedeuten zum einen, dass die Proteine, die jede Zelle aufbauen, gemeinsame Ursprünge haben. Auch viele Proteine, die bei Organbildungen und -funktionen und im Nervensystem wichtige Rollen spielen, sind über das Tierreich hinweg verwandt. Wohlgemerkt, entsprechende Gene bei Menschen, Maus oder Fliege sind in den seltensten Fällen völlig gleich, aber man erkennt immer noch deutlich, dass sie auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Das heißt, dass in der Evolution, bei der Entstehung von neuen Arten, die Proteine mit ihren Wechselwirkungen abgewandelt, verdoppelt, modifiziert, verloren, oder neu kombiniert wurden, und nur selten wirklich Neues dazu kam.

Diese Verwandtschaft bedeutet auch, dass man sehr viel von den kleinen Modellorganismen auch für die Biologie des Menschen lernen kann, denn Experimente verbieten sich am Menschen. In Würmern und Fliegen, mit Einschränkungen inzwischen auch in Mäusen und Fischen, lässt sich vieles durch genetische Experimente nachfragen: Es lassen sich verhältnismäßig leicht Mutanten isolieren - Familien, in denen einzelne Gene verändert oder funktionslos sind, ähnlich wie bei Erbkrankheiten des Menschen. Man erkennt an den Tieren, die nur das defekte Gen enthalten, in welchen Prozessen im Tier das betroffene Gen beteiligt ist und kann damit etwas über seine Funktion erfahren. Das gilt auch für Pflanzen. Bei Tieren und Pflanzen lassen sich isolierte Gene in den Organismus einschleusen. Diese Gene können auch aus anderen Organismen stammen oder aus Bruchstücken verschiedener Gene zusammengesetzt sein. Solche Tiere und Pflanzen, die artfremde DNA enthalten, nennt man „Transgen“.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren die gentechnischen Methoden soweit ausgereift, dass die gesamte DNA eines Organismus, das Genom, vollständig sequenziert werden konnte. Die Entzifferung des menschlichen Genoms, ein internationales Gemeinschaftsprojekt, das 10 Jahre gedauert hat, im Jahr 2000 stellt einen Höhepunkt der Genforschung dar. Inzwischen ist die Gensequenzierung viel effizienter und preiswerter geworden, mit dem Erfolg, dass heute die vollständigen Genome vieler Tier – und Pflanzenarten bekannt sind.

Die wichtigsten Lehren aus der Analyse des menschlichen Genoms:

3 Gigabasen. 3 Milliarden Buchstaben. Ungeheuer viel Information. Aber nur wenig davon sind Gene, die Proteinstrukturen bestimmen: ungefähr 1,3%. Vieles sind Sequenzen, die wohl zufällig während der Evolution ins Genom gelangt sind und nicht wieder verloren wurden. Es gibt nur ungefähr 25 000 Gene, definiert als DNA Einheiten, die zu Proteinprodukten führen Das ist viel weniger als man geglaubt hatte, denn die „einfachen“ Modellorganismen, die Fliege Drosophila und der Wurm C.elegans haben mit 13 000, bzw 19 000 Genen nicht viel weniger. Im Vergleich sind die Gene des Menschen aber erheblich komplexer aufgebaut und sehr viel größer. Das ist wichtig, denn es bedeutet, dass die Zunahme an Eigenschaften und Strukturen im Laufe der Evolution nicht einfach durch eine Zunahme an Genen geschehen ist, sondern durch eine enorme Zunahme der Komplexität der einzelnen Gene. Viele Gene kodieren für mehrere Varianten von Proteinen, und ihre Aktivität wird sehr kompliziert gesteuert.

Die wichtigste Schlussfolgerung aus diesen Ergebnissen: Es gibt viel weniger Gene als Eigenschaften. Das bedeutet zum einen, dass praktisch jedes Gen mehrere Funktionen ausübt und bei vielen verschiedenen Prozessen beteiligt ist. Auch bei Genen, die man glaubte sehr gut zu kennen, tauchen immer mehr und mehr Eigenschaften auf, die durch sie betroffen werden. Das bedeutet, zum anderen, dass einzelne Eigenschaften von mehreren, oft sehr vielen Genen beeinflusst werden. Im menschlichen Genom, das ja über eine verhältnismäßig geringe Zahl an Genen verfügt, ist die komplexe Beziehung zwischen Genen und Eigenschaften besonders offensichtlich. Sie weicht krass von der naiven „jede Eigenschaft hat ein Gen“ - Vorstellung ab. Auf die Spitze getrieben bedeutet das auch, dass man vielleicht von keinem Gen wirklich genau voraussagen kann, oder gar weiß, was es alles beeinflusst. Wird man den entzifferten Genen des Menschen ihre Funktionen je genau ansehen können? Wie kann man herausfinden, was sie alles tun? Die Forschung versucht mit modernen Methoden der Bioinformatik und der künstlichen Intelligenz Korrelationen herzustellen zwischen Eigenschaften und Genvarianten, die man in Datenbanken von vielen Individuen zusammengetragen hat. Die Ergebnisse sind in der Regel nicht eindeutig und haben bisher wenig Aussagekraft. Die Ursache vieler Eigenschaften, wie Blutdruck, Mut, Charakter, Intelligenz, Musikalität, Schreibtalent, Kreativität, Gedächtnis, Körpergröße und -Form sind in hohem Maße polygen bestimmt, das heißt, sie werden durch Variationen in sehr vielen Genen in ganz unterschiedlich starkem Maße messbar beeinflusst.

In wenigen Fällen lässt sich eine Pathologie auf einen Defekt in einem einzelnen Gen festmachen, wie es bei Erbkrankheiten der Fall ist. Etwa 1000 monogene Erbkrankheiten sind bekannt, die auf Funktionslosigkeit eines einzelnen Gens beruhen. Bei einigen genetisch bedingten Krankheiten ist es prinzipiell möglich oder zumindest denkbar, eine Heilung zu erwirken, indem Zellen, die das normale Gen tragen, in den Patienten eingebracht werden. Das versteht man unter somatischer Gentherapie. An der Entwicklung solcher Verfahren wird seit der Isolierung der ersten Krankheitsgene intensiv gearbeitet. Sie sind riskant, da der Einbau des Gens in die Zellen nicht immer fehlerfrei verläuft, und manche Zellen zu Krebszellen werden können. Somatische Gentherapie ist ein Beispiel für die Schwierigkeit, den Erfolg einer Forschungsrichtung vorherzusagen: vor 40 Jahren, als diese Forschung begonnen wurde, sah es so aus, als würde sie in wenigen Jahren und problemlos zu leistungsfähigen Therapien führen. Dieses Beispiel sollte einen ernüchternden Einfluss auf die häufig zu optimistischen Heilsversprechungen durch moderne Forschung haben.

Genom-editierung:

In der klassischen Gentechnik war man auf die induzierten zufälligen Mutationen angewiesen. Allerdings kann man, wie bereits erwähnt, schon lange isolierte Gene in einen Organismus einschleusen. Vor 5 Jahren wurde das Genom-Editieren durch die CRISPR/Cas9 Methode eingeführt, das erlaubt bestimmte Gene gezielt zu verändern. Das hat das Gebiet der Genforschung in Biologie und Medizin revolutioniert. Genom-Editierung wurde 2020 mit dem Nobelpreis für Chemie für die Mikrobiologin Emanuelle Charpentier und die Strukturbiologin Jennifer Doudna ausgezeichnet. Von diesen und anderen wurde ein bakterielles Abwehrsystem so modifiziert, dass ein einzelnes bekanntes Gen in der Zelle eines lebenden Organismus gezielt und präzise inaktiviert oder verändert werden kann. Das System, die sogenannte Genschere, heißt CRISPR/Cas9 nach den CRISPR -Sequenzen, „ Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“, die in Bakterien die DNA eines infizierenden Virus erkennen lassen, und dem Enzym Cas9. Dieses zerschneidet die DNA nur an einer einzigen Stelle im ausgewählten Gen. Das Raffinierte an dem System ist, dass die Cas9-Nuklease nur die eine Zielgenregion im spezifischen Gen unter all den Millionen von Sequenzen des riesigen Genoms erkennt und nur dort schneidet. Das wird bewirkt durch eine RNA - guide/Lenker RNA genannt - die sowohl die DNA Sequenz des zu schneidenden Gens, als auch das Enzym Cas9 erkennt und somit die beiden verknüpft. Das Andocken ist erstaunlich spezifisch und erstaunlich effizient, 30-100%. Nur selten kommt es zu Schnitten an anderen Stellen (sogenannte „off targets“). Man kann auch an der Schnittstelle Veränderungen vornehmen, zum Beispiel die Reparatur einer Mutation, oder das Einführen einer Genvariante. Dazu muss zusätzlich DNA in die Zelle eingebracht werden, die die gewünschte Sequenz hat. Durch „homologe Rekombination“ geschieht ein Austausch mit der endogenen Sequenz. Diese Ereignisse sind seltener. Es gibt inzwischen sehr viele Varianten und Anwendungen, die die hohe Spezifität des Andockens an das Gen ausnutzen.

Für die Biologische Forschung eröffnet Genom-Editierung zahlreiche neue Möglichkeiten der genetischen Analyse, an die früher nicht zu denken war. In der Entwicklungsbiologie, der Neuro- und Zellbiologie und der medizinischen Forschung, in Zellkulturen und Organoiden, in der Pflanzenforschung, bietet die CRISPR-Cas9 Methode vielfältige Möglichkeiten, die Forschungsergebnisse sicherer, präziser und schneller zu erreichen, sie erweitert das Spektrum der Möglichkeiten enorm. Zum Beispiel kann man auch an Organismen, die bisher in der Forschung wenig einsetzbar waren, Mutationen erzeugen, um Evolution und Entstehung von Biodiversität aufzuklären. Das ist Gegenstand meiner jetzigen eigenen Forschung.

Nach der ersten Publikation 2014 gab es natürlich sofort Diskussionen über die Anwendung der Genom-Editierung im menschlichen Embryo. Kann man damit Erbkrankheiten heilen?

Das Verfahren ist noch so neu, das Risiko so hoch, dass ein Konsensus der wissenschaftlichen Gemeinschaft besteht, dass Genom-Editierung am frühen menschlichen Embryo, der für eine Schwangerschaft bestimmt ist, derzeit nicht durchgeführt werden sollte. Die Methode ist nicht effizient genug, und sie ist riskant, denn es können, trotz aller Präzision, auch Fehler passieren und Gene getroffen werden, die nicht gezielt waren, sogenannte Off-targets. Dies kann zu unvorhersehbaren Folgen führen.

Gegen das Ansinnen einer Reparatur des defekten Gens bei einer rezessiven Erbkrankheit gibt es einen wichtigen Einwand: Sind beide Eltern Träger einer Mutation in einer ihrer beiden Kopien des betreffenden Krankheitsgens, so sind statistisch nur in einem von vier Embryonen beide Genkopien defekt. Unter den befruchteten Eizellen sind auch welche, die keine Mutation in dem Krankheitsgen tragen, diese können durch Präimplantations-Diagnostik ausgesucht werden. Es ist also unvernünftig, in diesem Zusammenhang auf die möglichen heilbringenden Wirkungen der Genom-Editierung bei Erbkrankheiten zu verweisen, da es bereits ein sicheres erprobtes Verfahren gibt, gesunde Embryonen zu bekommen.

Für die Anwendung der Genom Editierung bei somatischer Gentherapie gibt es dagegen keine ethischen Bedenken. Hier dreht es sich um die Heilung von kranken Menschen durch Einführung eines korrigierten Gens in ein Körpergewebe wie die Muskulatur oder das Blut, also nicht in die Keimbahn. Einige wenige Erbkrankheiten könnten sich damit heilen oder zumindest lindern lassen. An solchen Therapien wird intensiv gearbeitet, und es gibt erste Erfolgsmeldungen. Generell werden sie aber noch nicht als genügend sicher betrachtet, um in größerem Stil klinisch angewendet zu werden.

Wie steht es mit dem Ansinnen, mit Genom-Editierung die Menschen besser, größer, klüger oder schöner zu machen? Wird in mehr oder weniger ferner Zukunft der Mensch seine Evolution selbst in die Hand nehmen anstatt sie dem Zufall zu überlassen, wie es in vielen utopischen Romanen bereits fest einkalkuliert wird? Durch Genom-Editierung lassen sich jetzt besonders leistungsfähige Nutztiere und Pflanzensorten erzeugen; wenn es bei anderen Tieren geht, warum nicht beim Menschen? Aber bei solchen genetischen Experimenten mit Mäusen, Fischen, Rindern, Reis oder Rüben gehen gewünschte Genveränderungen mit großen Zahlen nicht gelungener Versuche einher, es wird in hohem Maße Auslese betrieben. Aus einer großen Zahl werden diejenigen Tiere oder Pflanzen, die die gewünschten Eigenschaften tragen, zur Fortpflanzung ausgewählt: Das ist aber beim Menschen undenkbar.

Und welche Gene würden wir denn gerne verbessern, verändern, zusätzlich einführen? Da sind wir mit der Weisheit bald am Ende, denn die Eigenschaften eines Organismus hängen in sehr komplexer Weise von den Genen ab. Ich habe bereits ausgeführt, dass ganz allgemein gilt, dass man von keinem Gen des Menschen genau weiß, was es alles bewirkt, was es alles beeinflusst. Die Eigenschaften kommen durch vielfältiges Zusammenspiel vieler Gene (polygen) zustande. Zum Beispiel wird der Intelligenzquotient durch Genvarianten in sicher deutlich mehr als 100 Genen beeinflusst, wenn auch von jedem nur geringfügig, und es gibt nicht nur ein Gen für Musikalität, eine lange Nase oder blonde Haare, nein, viele Gene wirken zusammen um diese Eigenschaften zu bedingen. Es ist unmöglich, eine sichere Voraussage zu machen, was eine gezielte Veränderung eines bestimmten Gens innerhalb des noch unbekannten Genoms eines Embryos in diesem werdenden Menschen bewirken würde. Die Ausprägung (der Phänotyp) einer jeden Genveränderung hängt nämlich ganz entscheidend vom gesamten Genom des Individuums ab. Daher werden noch so intelligente Anwendungen der Bioinformatik bei der Analyse von noch so riesigen Datenmengen von menschlichen Genomsequenzen letztlich keine sicheren Auskünfte darüber geben können, welche Auswirkungen es hat, wenn ein bestimmtes Gen in einem individuellen menschlichen Embryo mutiert wird. Abgesehen von der geringen Erfolgschance bleibt das Risiko der Off-target-Effekte. Deshalb gilt sicher für absehbare Zeit (und wie ich meine für immer): Hände weg!

Grüne Gentechnik mit Genom-Editierung:

Anders sieht es für Nutzpflanzen aus und es ist höchste Zeit, Genom-Editierung für die Pflanzenzüchtung in Deutschland zu ermöglichen. Für diese ist die CRISPR/Cas9-Methode außerordentlich vielversprechend, allerdings hier in Deutschland und in der EU noch nicht wirklich zugelassen, denn sie fällt unter das Gentechnikgesetz, dass für den Anbau transgener Pflanzen sehr strenge, kaum zu leistende Auflagen erhebt. Die Geschichte der Gentechnik bei Pflanzen ist eine andere als in der Medizin: obwohl in den 80er Jahren endlich die Vorbehalte gegen Gentechnik im Bereich der Medizin ausgeräumt wurde, weil die Leistungsfähigkeit überzeugte (sehr viele Medikamente werden auf gentechnischem Weg hergestellt, ohne dass das gekennzeichnet werden müsste), ist bis heute die Anwendung in der Landwirtschaft in Deutschland immer noch ein rotes Tuch. Und das, obwohl gentechnisch hergestellte Sorten in riesigem Ausmaß mit Vorteil in anderen Ländern angebaut werden und bisher noch kein einziger Fall eines durch transgene Pflanzen verursachten Schaden für Mensch, Tier und Umwelt nachgewiesen wurde. Dabei gebietet die Vernunft, solche Züchtungen zuzulassen, weil sie, abgesehen vom wirtschaftlichen Nutzen durch höhere Erträge, einen sehr wichtigen Beitrag zum Naturschutz, zum Artenschutz, gegen das Insektensterben, leisten können. Dazu möchte ich ein wenig ausholen:

Große Teile unseres Landes sind nicht natürlich; es sind reine Kulturlandschaften, in denen Nahrung für Mensch und Nutztier produziert wird. Die Kulturpflanzen sind hochgradig gezüchtet, das heißt vielfach genetisch verändert, und in langjährigen Ausleseprozessen an hohe Erträge angepasst. Die Landwirtschaft muss hohe Erträge bringen, denn die Agrarflächen sind begrenzt und die Bevölkerung nimmt zu. Hohe Erträge erfordern den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die erlauben, nur die gewünschte Kulturpflanze optimal gedeihen zu lassen. Dabei werden in großem Stil Insektizide und andere Pestizide ausgebracht, die vor Schädlingsbefall schützen. Im ökologischen Landbau ist der Einsatz von Chemie nicht erlaubt. Aber auch hier kommt man um Pflanzenschutzmittel nicht herum. Wer meint, etwas Gutes für die Umwelt damit zu tun, Bio-Lebensmittel zu kaufen, irrt, denn Bio-Anbau produziert trotz größerem Aufwand sehr deutlich weniger Ertrag pro Fläche, und Bioprodukte können sich nur die Reichen,- in reichen Ländern- leisten. Es ist eine Illusion, die Einwohner von Millionenstädten allein mit Bio-Produkten ernähren zu können. Denn die Ackerflächen sind begrenzt, sie schrumpfen eher durch zunehmende Versiegelung, durch noch mehr Straßen, noch größere Städte, durch Solarpaneele und Windräder, Anbau von Energiepflanzen. Schon jetzt werden bei uns Nahrungsmittel in erheblichen Maßen importiert, häufig aus Ländern mit geringeren Standards, was Umweltverträglichkeit, Klimaschonung und Gesundheit der Landwirte anbetrifft. Eine Vergrößerung der Anbaufläche wuÿrde weltweit Moore, Urwälder und Steppen gefährden.

Der massive Einsatz von Pflanzenschutzmitteln aber ist ein großes Problem für unsere Tierwelt und bedroht die Artenvielfalt auch in den mehr „naturbelassenen“ Gebieten. Es ist erschreckend, wie drastisch in Deutschland Insekten zurückgegangen sind und damit die Vögel. Jedes Jahr stirbt eine von den etwa 150 heimischen Vogelarten gebietsweise aus. Diese Entwicklung geht nicht nur, aber doch wesentlich auf Insektizide zurück, die notwendig sind, um sichere Erträge zu erzielen. Jeder, der einen Garten hat, weiß das. Die Artenvielfalt und der Naturschutz liegen mir besonders am Herzen. Um dem Verlust von Biodiversität entgegenzutreten, muss der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln unbedingt verringert werden. Ein wichtiger Beitrag dazu ist der Anbau widerstandsfähiger, resistenter Sorten, die weniger Schutz durch Pestizide brauchen. Alle Kulturpflanzen, Getreide, Gemüse und Obst haben durch Züchtung ihre natürlichen Abwehrstoffe verloren, um sie genießbar und schmackhaft zu machen. In den wirtschaftlichen Monokulturen breiten sich die spezifischen Käfer, Schmetterlinge Motten, Pilze und Nematoden ohne Spritzungen rasch aus. Widerstandsfähige Sorten müssen weniger gespritzt werden und bringen höhere Erträge. Die konventionelle Pflanzenzüchtung hat hier viel geleistet, aber sie ist sehr langwierig und aufwändig.

Eine wichtige Strategie der Pflanzenzüchter verfolgt den gentechnischen Einbau von Resistenzgenen. Arteigene Resistenzgene sind häufig bei der Kultivierung von Nutzpflanzen inaktiv geworden, können aber aus den Wildformen isoliert und ins Genom der Kulturpflanze gebracht werden. Ein Beispiel dafür sind Kartoffeln. Der Pilz Phytophtora, der die Kartoffelfäule verursacht, war die Ursache der großen Hungersnot in Irland im 19. Jahrhundert, dem mehrere Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Gegen Kartoffelfäule und andere Pilzkrankheiten wird im Biolandbau Kupfersulfat als Spritzmittel verwendet, ein Schwermetall, das sich unvermeidlich im Boden anreichert. Arteigene Resistenzgene sind inzwischen bekannt und lassen sich in Kartoffelsorten einbauen um diese immun gegen die Fäule zu machen. Sie können aber in Deutschland nicht angebaut werden, denn die Anwendung transgener Verfahren im Ackerbau sind in Deutschland durch unser Gentechnik- Gesetz so erschwert, dass die Nutzung solcher robusten Anbausorten weitgehend woanders auf der Welt stattfindet. Es gibt in Deutschland nicht eine gentechnisch veränderte Pflanze auf dem Acker. Freilandversuche, die notwendig wären, um die Leistungsfähigkeit einer neuen Sorte zu testen, sind praktisch unmöglich, da die Felder durch Aktivisten regelmäßig zerstört werden. Das Label „Ohne Gentechnik“, das sich auf deutschen Milchtüten und Eierkartons findet, ist wahrlich absurd! Es besteht offenbar eine tiefsitzende Angst vor möglichen Gefahren einer neuartigen Technologie. Das war wohl vor 30 Jahren, als es noch wenig Erfahrung gab, nachvollziehbar, aber inzwischen weiß man so viel mehr, dass es an der Zeit ist, diese Einstellung zu revidieren.

Mit der „CRISPR/Cas9“-Methode der Genom-Editierung gezüchtete Pflanzen enthalten keine artfremden Gene. Diese Pflanzen lassen sich nicht von Pflanzen unterscheiden, die auf konventionellem Wege gezüchtet wurden. Mit Genom-Editierung können mutierte Resistenzgene reaktiviert werden. Man kann auch mehrere Gene gleichzeitig mutieren, was wichtig ist, da viele Eigenschaften auf einer Kombination mehrerer Gene beruhen. Die Genscheren können in allen möglichen Pflanzenarten Mutationen erzeugen, also nicht nur in den etablierten gezüchteten Sorten. Dadurch lassen sich neue Kulturpflanzen, die für bestimmte Regionen oder Böden besonders geeignet sind, kreieren. Neue Züchtungen durch diese so effiziente und zeitsparende Methode sind auch dringend notwendig, um dem Klimawandel zu begegnen. Inzwischen sind weltweit uÿber 100 marktfähige genomeditierte Nutzpflanzen bekannt, die Vorteile fuÿr die Ernährung sowie fuÿr eine produktive, pestizidarme und ressourcenschonende Landwirtschaft aufweisen. Dazu gehören bakterienresistenter Reis, pilzresistente Sorten von Wein, Weizen, Bananen und Kakao sowie trockentolerantere Sorten von Mais, Weizen und Sojabohnen.

Ein wichtiger Aspekt ist, dass sich mit den modernen Methoden der Genom-Editierung mit relativ geringem Aufwand, den auch kleine Züchtungsbetriebe leisten können, widerstandsfähige und ertragreiche Sorten von sehr vielen verschiedenen Kulturpflanzen erzeugen lassen. Damit kämen wir weg von den gleichförmigen Monokulturen von Raps, Weizen und Mais, hin zu einer größeren Vielfalt und mehr Biodiversität in der Kulturlandschaft. Bereits gut bewährte Sorten können einfach durch eine Genmutation, die sich in anderen Arten als vorteilhaft erwiesen hat, verbessert werden. Damit kämen wir auch weg von der Abhängigkeit von großen Firmen, die sich bisher allein die teuren Zulassungsbedingungen leisten können.

Die Vernunft gebietet es geradezu, diese Technik einzusetzen, um einen schonenderen Umgang mit der Natur zu erreichen. Meine Vision ist der Anbau gentechnisch veränderter resistenter Kulturpflanzen in Kombination mit nachhaltigen Verfahren der Bodenbearbeitung und Düngung, wie sie zum Beispiel im ökologischen Landbau entwickelt wurden, aber auch bei moderneren Anbaustrategien in der konventionellen Landwirtschaft berücksichtigt werden. Wenig lukratives Kulturland sollte man dagegen weitgehend renaturieren, um der Pflanzen - und Tierwelt großflächige Rückzugsorte zu verschaffen.

Ob sich diese Vision umsetzen lässt? Als Wissenschaftlerin bestürzt mich, dass in Deutschland Pflanzengentechnik nur noch im Labor stattfindet. Die deutschen Agrarfirmen haben ihre Forschung und Entwicklung längst ins Ausland verlegt, die klassischen Forschungsinstitute betreiben keine Pflanzenzüchtungsforschung mehr. Dabei hat gerade Deutschland eine lange Tradition in landwirtschaftlicher Forschung. Eine Erleichterung der Zulassungsverfahren, wobei das Züchtungsprodukt, unabhängig vom Weg, auf dem es hergestellt wurde, getestet und entsprechend zugelassen wird, ist dringend erforderlich. Hoffen wir mal, dass das in der kommenden Legislaturperiode gelingt!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Zum Artikel

Erstellt:
06.10.2023, 18:25 Uhr
Lesedauer: ca. 14min 11sec
zuletzt aktualisiert: 06.10.2023, 18:25 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!