Tübingen · Amtsgericht

Prozess wegen Tod nach Zahn-OP fortgesetzt

Im Prozess um den Tod eines Patienten der Tübinger Zahnklinik sagte am Montag der Mediziner aus, der ihn operierte.

28.05.2019

Von Jonas Bleeser

Im Herbst 2016 erlitt ein Patient in der Tübinger Zahnklinik bei einer siebeneinhalb Stunden langen Operation einen Herzstillstand. Es kam zu massiven Hirnschäden. Neun Tage später starb der Mann auf der Intensivstation. Nun muss sich der Narkosearzt vor dem Tübinger Amtsgericht verantworten: Die Anklage wirft ihm fahrlässige Tötung vor. Ein Gutachter kam zu dem Schluss, der hätte die Operation abbrechen müssen, da die Sauerstoffsättigung im Blut des 54-jährigen Patienten zu gering gewesen sei. Gegen einen Strafbefehl hatte der heute 73-jährige Oberarzt Einspruch eingelegt.

Zahnarzt: Eine Routine-OP

Im Mittelpunkt des zweiten Prozesstags am Montag standen der Ablauf der Operation und die dabei angewandte Art der Betäubung. Der Patient, selbst in der Verwaltung des Tübinger Uni-Klinikums angestellt, hatte große Angst vor einer Behandlung beim Zahnarzt. Also wollte er möglichst viel auf einmal erledigen lassen.

Operiert wurde er vom damaligen ärztlichen Direktor der Abteilung Prothetik an der Tübinger Zahnklinik. Im Vorfeld habe er sich zwei Mal zu Vorgesprächen mit dem Patienten getroffen, sagte der 68-Jährige als Zeuge. Dabei sei abgefragt worden, ob der Patient Kreislauf- oder Herzprobleme hatte. Davon sei dem aber nichts bekannt gewesen. Die Operation war auf sechs Stunden angesetzt. Sie habe sich dann verlängert, weil abgestorbene Zähne entfernt wurden.

Zur Betäubung setzten die Ärzte auf eine Methode, die der Zahnmediziner gemeinsam mit dem nun angeklagten Narkosearzt vor etwa 20 Jahren in Tübingen etablierte. Dabei werden Patienten nicht in eine Vollnarkose versetzt, bei der sie beatmet werden müssten, sondern fallen mithilfe des Medikaments Propofol in eine Art Dämmerschlaf. Diese Form der Betäubung lernte der Zahnmediziner in England kennen: „Wir waren die ersten, die das Verfahren in Deutschland nutzten“, stellte der Zeuge fest, „meine Abteilung ist in Deutschland dabei führend geworden.“ Das Verfahren sei dort nun „absolute Routine“.

Es habe mehrere Vorteile: Der Patient könne im Anschluss schnell aufgeweckt werden und „gehfähig den Angehörigen übergeben“ werden. Eine aufwändige Überwachung in einem Aufwachraum sei nicht nötig. Außerdem stört bei der Zahnbehandlung kein fixierter Beatmungsschlauch im Mund. Anders als bei einer Vollnarkose könne der Patient auch noch den Mund schließen, was bei manchen Eingriffen ein weiterer Vorteil sei.

Bis zum Tod des Mannes verliefen die Behandlungen über all die Jahre „ausschließlich positiv“, so der Zeuge. Die meisten OPs machten er oder seine Oberärzte gemeinsam mit dem nun angeklagten Anästhesisten. Denn bei dieser Form der Betäubung sei eine tiefe Absaugung von Speichel und Blut in Nase und Rachen wichtig. Das habe der Angeklagte mit einem Katheterschlauch deutlich tiefer machen können, als die darin nicht spezialisierten Zahnmediziner: „Wir haben lieber einen Termin verschoben, als mit jemand anderem zu arbeiten.“ So habe man auch Hochrisiko-Patienten operiert, die beispielsweise Schlaganfälle hinter sich hatten.

Verteidiger zweifelt an Gutachter

Einmal sei die Operation des später verstorbenen 54-Jährigen auf Weisung des Anästhesisten unterbrochen worden, der bei dem Mann auf dem Behandlungsstuhl Kreislaufprobleme feststellte. Doch nach einer Atropin-Gabe habe sich dessen Zustand stabilisiert. Überlegungen, die OP abzubrechen, habe es nicht gegeben. Als der Patient schließlich kollabierte, hatte der Zeuge die Operation bereits an einen Kollegen übergeben und den Raum verlassen.

Die Staatsanwältin hakte nach: „Warum setzen andere Uni-Kliniken das Verfahren nicht ein?“ Da gebe es die Erfahrung nicht, vermutete der Zeuge. Auch der Gutachter wollte mehr wissen: „Warum ist im Narkoseprotokoll nicht vermerkt, was an lokaler Betäubung gespritzt wurde? Das kann doch Komplikationen geben!“ Das stehe sicherlich in der Patientenakte, so der Zeuge.

Erneut kam es im Prozess zu giftigen Bemerkungen zwischen Verteidiger und Gutachter. Der Anwalt hielt dem Experten vor, er sei ja seit längerem emeritiert und nicht mehr im Beruf: Propofol-Betäubungen für Zahnmediziner habe er auch noch nie gemacht. Der Gutachter wiederum verbat sich das: Ihn für inkompetent zu erklären, sei „ein starkes Stück“. Der Prozess wird am Montag, 3. Juni, 9 Uhr, fortgesetzt.

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Erstellt:
28.05.2019, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 01sec
zuletzt aktualisiert: 28.05.2019, 01:00 Uhr

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