Tübingen · „Übrigens“

Beim Virus ist Vorsicht in jeder Hinsicht geboten

Gernot Stegert über die kränkelnde Information zu Corona

01.03.2020

Von Gernot Stegert

Von viraler Ausbreitung wird oft nur metaphorisch gesprochen. Derzeit erlebt die globalisierte Welt, auch die Region Tübingen, was es im Wortsinne heißt. Die Fallzahlen beim Corona-Virus steigen bundesweit steil an und damit die echte Ansteckungsgefahr und die gefühlte, sprich: Angst. Dabei gilt es, die schwierige Balance zu wahren zwischen Panikmache und Verharmlosung.

Panik ist nie ein guter Ratgeber. Sie verleitet zu irrationalem Handeln, lähmt das öffentliche Leben und kann selbst schaden. Das zeigt das Beispiel des Universitäts-Klinikums. Würde man nach der Infizierung eines Oberarztes ganze Abteilungen schließen, würde die Krankenversorgung leiden. Es war und ist richtig von der UKT-Leitung, alle Kontakte ausfindig zu machen, zu testen und unter Quarantäne zu stellen. Diese gezielte Strategie ist die erste Wahl. Viel mehr Opfer werden dagegen beim Abriegeln ganzer Städte riskiert. Absurd ist der martialische Einsatz von Soldaten mit Maschinengewehren.

Doch nicht immer ist so klar, was verhältnismäßig ist. Was ist denn eine „Überreaktion“. Oft weiß man es erst im Nachhinein. Reihenweise werden europaweit Großveranstaltungen abgesagt. Ist das Panik oder Vernunft? Die Schweizer gelten ja nicht gerade als leicht erregbar. Bei drei Infizierten, die im Tübinger Klinikum abgeschirmt sind, ist es verhältnismäßig, die FDF-Messe, Sportveranstaltungen und Konzerte in der Region nicht abzusagen, die Schulen und Kitas nicht zu schließen. Die Aufforderung an Reisende, die in Infektionsgebieten waren, daheim zu bleiben und sich untersuchen zu lassen, genügt. Aber das gilt: derzeit, offenbar, nach aktuellem Wissen. Nordrhein-Westfalen zeigt, dass sich die Lage schnell ändern kann – sobald die Infektionskette nicht mehr nachvollziehbar, die Zahl der Angesteckten unklar, das Virus außer Kontrolle ist.

Nicht nur die Einschätzung dessen, was Panik ist, hat sich in den vergangenen Tagen gewandelt. Was kürzlich noch vernünftig schien, ist rückblickend abwiegelnd. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lehnte Kontrollen von Einreisenden aus Krisengebieten ab. Nun sagt er, Deutschland stehe am Anfang einer Epidemie. Viele Experten fanden Tests zu aufwändig, jetzt fordern etliche, genau diese umfassend durchzuführen. Erst hieß es, nur Ältere seien betroffen, mittlerweile sind 40-Jährige gestorben. Der fernsehbekannte Berliner Virologe Christian Drosten beruhigt und erklärt zwei Sätze später: „Es wird schlimm werden.“ Was sollen die Menschen da denken – und tun? Das Virus schleicht sich ins Vertrauen und schwächt dieses. Die Wissenschaftler wissen schlichtweg noch zu wenig. Für Forscher schnell, für die Ausbreitung der Krankheit zu langsam sammeln sie Erkenntnisse.

So hinkte auch der Vergleich mit der Grippe, den auch Tübinger zogen, um nur ja keine Panik zu verbreiten. Gewiss, an der Influenza starben zuletzt 20000 Menschen im Jahr. Dennoch hält das Robert-Koch-Institut den neuen Virus mittlerweile für gefährlicher. Denn Verlauf und Übertragung sind nicht erforscht, Impfmittel fehlen. Tückisch auch: Man kann infiziert sein, ohne Symptome zu zeigen. Ein statistischer Vergleich der Sterblichkeitsrate ist ohnehin Unsinn, solange es eine hohe Dunkelziffer gibt.

Wir Medien versuchen nach bestem Wissen zu informieren. Das gelingt nicht immer. Was eben auch an der Natur der Sache liegt. Oft sind klare Antworten auf einfache Fragen kaum zu bekommen. Etwa die nach der Übertragung. Das Robert-Koch-Institut teilt mit: „Der Hauptübertragungsweg ist die Tröpfcheninfektion.“ Gleichzeitig empfiehlt es Veranstaltern „die Reinigung von Oberflächen und Sanitäranlagen sowie gute Belüftung des Veranstaltungsortes“. Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung meint: „Eine Übertragung über unbelebte Oberflächen ist bisher nicht dokumentiert.“ Und verweist auf das Bundesinstitut für Risikobewertung, das schreibt: „Weiterhin können verschiedene Atemwegs-Erreger über Schmierinfektionen übertragen werden.“ Sie könnten sich auf Oberflächen ein paar Tage halten. Aber die Übertragung über importierte Waren sei „unwahrscheinlich“. Was denn nun?

Weil noch vieles im Unklaren, bleibt nur in aller Besonnenheit hohe Aufmerksamkeit und Vorsicht. Lieber einmal zu viel die Hände waschen, Abstand nehmen, testen. Und auch daheim bleiben? Das Fragezeichen bleibt. Vorerst.

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Erstellt:
01.03.2020, 17:53 Uhr
Lesedauer: ca. 2min 57sec
zuletzt aktualisiert: 01.03.2020, 17:53 Uhr

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