Gesundheit

Barmer-Chef: „Beim Digitalen hat man geschlafen“

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass viele kleine Krankenhäuser nicht die Kompetenz für die Behandlung schwerer Erkrankungen haben, sagt Winfried Plötze, Landeschef der Krankenkasse Barmer.

10.03.2021

Von JENS SCHMITZ

Winfried Plötze ist Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer. Foto: Barmer

Winfried Plötze ist Landesgeschäftsführer der Krankenkasse Barmer. Foto: Barmer

Stuttgart. Die Corona-Pandemie ist längst noch nicht überstanden, gerade deshalb versuchen Fachleute, so schnell wie möglich aus ihr zu lernen. Auch mittel- und langfristig gibt es aber inzwischen Empfehlungen für Konsequenzen im Gesundheitssystem. Die Krankenkasse Barmer hat gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung eine Zwischenbilanz erstellt.

Herr Plötze, Ihre Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass die vorhandenen Pandemie-Pläne unzureichend waren, der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ungenügend ausgestattet ist und der Krankenhaus-Sektor reformbedürftig. Trotzdem sei die Leistungsbilanz in der Krise insgesamt gut. Wie passt das zusammen?

Winfried Plötze: Unser Pluspunkt war der ambulante Sektor. Die meisten Menschen mit Symptomen haben einen Haus- oder Facharzt aufgesucht und sind nicht in eine Klinik gegangen, in der sie das Virus hätten verbreiten können. Man hat deshalb auch schnell begonnen, die ambulanten Notfallpraxen aus den Krankenhäusern herauszuziehen. Hier haben auch die Landräte und die Kommunalpolitiker ein sehr gutes Krisenmanagement betrieben.

Auch im internationalen Vergleich kommt Deutschland bei Ihnen gut weg. Gab es noch andere Erfolgsfaktoren?

Das anlassbezogene Testen war ganz klar ein Erfolgsfaktor, ebenso die frühe Eindämmung mit Nachverfolgung und Lockdown im März.

Den Lockdown light zu Beginn der zweiten Welle hält die Landesregierung heute selbst für zu schwach.

Das war ja der Dissens zwischen Kanzlerin Angela Merkel und einigen Ministerpräsidenten, die hinterher dann reumütig bekannt haben, dass Frau Merkel Recht hatte. Aber hinterher ist man oft schlauer. Uns hat aber auch noch etwas anderes geholfen. Bezogen auf die Bevölkerungszahl haben wir deutlich mehr Intensivbetten als Italien oder Frankreich. Es gab regionale Belastungsspitzen, aber deutschlandweit waren wir bei der Belegung der Intensivbetten nie an der Kapazitätsgrenze. Inzwischen können wir in den Kliniken auch innerhalb von zwei, drei Tagen aufrüsten und zusätzliche Ressourcen schaffen.

Der ÖGD ist durch die Kontaktnachverfolgung stärker ins Bewusstsein gerückt. Der Bund hat vier Milliarden Euro in Aussicht gestellt, um ihn zu stärken. Sie fordern mehr. Welche Summen sind nötig?

Das ist schwer zu sagen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat neue Stellen bewilligt, und auch in Baden-Württemberg werden ja 220 zusätzliche Stellen im ÖGD geschaffen. Aber Ärzte wachsen nicht auf den Bäumen. Die muss man erst mal gewinnen, genau wie das Pflegepersonal. Das ist nicht leicht, weil das Gehaltsniveau im ÖGD niedriger ist als im Krankenhausbereich. Hier wurde in der Vergangenheit versäumt, gegenzusteuern. Man hat auch längst gewusst, dass in den Gesundheitsämtern etwa für den Bereich Krankenhaushygiene viel zu wenig Personal existiert. Oder dass Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Jetzt ist uns das vor die Füße gefallen.

Sie wollen die Krankenhäuser weiter zentralisieren. Es gibt aber Stimmen, die sagen, Corona habe gezeigt, dass man jede kleine Klinik brauche.

Das ist ein Missverständnis, das auch von Kommunalpolitikern leider oft wiedergegeben wird. Es entspricht aber nicht den Fakten. Tatsächlich hat ein Viertel der Kliniken während der ersten Welle den Löwenanteil der Covid-19-Patienten versorgt. Ein Viertel hatte gar keine Corona-Patienten. Die kleinen Krankenhäuser werden auch künftig eine wichtige Rolle spielen. In der Krise waren es aber die großen Maximalversorger, die über die Intensivbetten und auch über das entsprechende Pflegepersonal verfügt haben.

Warum?

Ein Bett kann nur als Intensivbett gemeldet werden, wenn man auch spezialisiertes Personal dafür hat. Das kann ein kleines Krankenhaus gar nicht leisten. Das gilt übrigens auch für andere Indikationen wie etwa Schlaganfall, Herzinfarkt oder Krebs. Wir können nicht die Kompetenz für diese schweren Erkrankungen auf knapp 2000 Krankenhäuser verteilen.

Die Digitalisierung haben Sie bereits angesprochen. Wo sehen Sie den dringendsten Handlungsbedarf?

Handlungsbedarf sehe ich an mehreren Stellen. So hat die Pandemie gezeigt, dass wir die elektronische Patientenakte viel zu spät eingeführt haben. Hätte wir diese schon vor fünf Jahren umgesetzt, dann hätten wir jetzt vielleicht auch einen elektronischen Impfpass. Stattdessen arbeiten wir im Gesundheitswesen noch viel mit Papierakten und versenden Faxe. Es gibt sogar Krankenhäuser, in denen stockwerksbezogen unterschiedliche Patientenakten angelegt werden. Nicht umsonst kommt jetzt der Krankenhaus-Zukunftsfonds mit drei Milliarden Euro, um die Digitalisierung in den Kliniken voranzutreiben. Da hat man wirklich geschlafen.

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Erstellt:
10.03.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 05sec
zuletzt aktualisiert: 10.03.2021, 06:00 Uhr

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