Fußball

Basti, wie ordnest du das ein?

Was Kommentatoren und Experten so leisten: Wurde jemals im Fernsehen so viel geredet wie bei dieser EM? Eine theatralische Betrachtung.

22.06.2021

Von JÜRGEN KANOLD

Das Expertentum ist gefragt: Bastian Schweinsteiger mit Jessy Wellmer  und Bundestrainer Jogi Löw. Foto: imago-images.de

Das Expertentum ist gefragt: Bastian Schweinsteiger mit Jessy Wellmer und Bundestrainer Jogi Löw. Foto: imago-images.de

Ulm. Ronaldo ist Ronaldo“, sagt Schweinsteiger, der zweifellos immer Schweinsteiger ist – aber auch ein so genannter Experte. Weshalb Gerd Gottlob, der eigentliche ARD-Kommentator, ihn später aus dem Off zu einem Experten-Kommentar auffordert: „Basti, wie ordnest du das ein?“ Schweigen.

Dann aber, nach dem Sieg gegen Portugal, sagt der mit Silberlocke gereifte frühere Weltmeister-„Schweini“ anerkennend: „Darauf können wir aufbauen!“ Das „Wir“ ist ganz wichtig, um die TV-Zuschauer mitzunehmen, denn nicht nur die Nationalmannschaft hat gewonnen, sondern Schweinsteiger und wir alle. Oder um Alexander Bommes, der wiederum ein Moderator ist, mit einem Zitat einzuwechseln: „Da kannst du sehen, was der Kopf ausmacht im Profisport.“

Fußball ist halt auch nur Theater. Und es wird tatsächlich noch auf dem Platz gespielt. Doch vor, während und nach einer Live-Übertragung ist im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen wohl noch nie so viel über Fußball geredet worden wie jetzt bei dieser Europameisterschaft.

Es wird mal schlau, mal mit allen Plattitüden nicht nur über die Moral der Mannschaft oder Jogi Löws Dreierkette debattiert. Nein, es wird auch fortwährend analysiert, in verschärftem Maße mithilfe von Extra-Experten, also unprominenten Fachleuten, und mit Schaubildern wie in der Sportschule.

Man fragt sich: Hatten die Fußballfans früher überhaupt keine Ahnung? Oder gibt das Fernsehen jetzt zu, dass es die Zuschauer immer unterschätzt hat? Oder ist das jetzt ein demokratischer Spielzug im neuen TV-Zeitalter: Keiner wird mehr bevormundet, jeder soll sich sein eigenes Bild machen können? Und zwar mit einem objektiven Blick?

Eine logische Entwicklung offenbar, schließlich werden auch Schiedsrichter vom Video-Assistenten zurückgepfiffen, wenn sie krass irren. Oder gehört es zum Unterhaltungsangebot von ARD und ZDF, nicht mehr nur die Politik, sondern auch den Sport endgültig zu talkshowisieren?

Früher machte das sehr viel schadenfreudigen Spaß: Elegante Dribblings, einen Pass übers halbe Feld, tolle Tore anschauen, okay, aber sich über den ahnungslosen Reporter aufregen, das hob besonders die Einschaltquote. Jeder sah, dass es Abseits war oder kein Elfmeter, nur nicht der arme Mann am Mikrofon – denn der hatte einen viel schlechteren Platz im Stadion als die Millionen Zuschauer vor dem Fernsehgerät.

Eine Viertelstunde später musste, sagen wir mal: Heribert Fassbender den Irrtum zugeben, weil ihm das endlich jemand geflüstert hatte. Heutzutage agieren die Reporter multimedial vernetzt meist auf Ballhöhe, mit einem Team auf der Bank. Und Experten.

Aber Moment mal, Timeout, gelbe Karte! Ja, wir müssen gendern. Bei dieser Fußball-EM (der Männer) kommentieren Frauen ein Spiel (Claudia Neumann, ZDF), sitzen Expertinnen wie die Nationaltorhüterin Almuth Schult in den Runden und moderieren Jessy Wellmer oder Katrin Müller-Hohenstein. Bestens: Es schauen ja nicht nur Männer zu.

Zurück zum Spiel: Was sollte denn ein TV-Kommentator leisten? Nur das berichten, was man eben nicht sieht? Mit Fachverstand die Situationen erklären und ansonsten möglichst die Übertragung nicht stören?

Das ist die alte Schule. Die ZDF-Mediathek bietet Klassiker der Sportgeschichte an, etwa in voller Länge das berühmte 3:1 der Deutschen gegen England im Viertelfinale der Europameisterschaft 1972 – den Sieg der „Jahrhundertelf“ in Wembley. Höchst sachlich schildert Werner Schneider die bewegte Mannschaftsaufstellung: „Beckenbauer auf Netzer“.

Der Reporter kann auch eine Instanz sein, den Zuschauer in seiner Meinung bestätigen, sich als Gesprächspartner (ohne direkte Widerrede) anbieten oder ein todlangweiliges Match interessantquasseln. Aber wie laut darf er Stimmung machen? Minutenlange „Goooooool“-Koloraturen sind bei uns ja nicht so üblich.

Und wie läuft das im Theater?

Die Theaterbranche jedenfalls betracht das EM-Spektakel staunend und ein bisschen neidisch. Man stelle sich etwa eine Live-Übertragung von „Tristan und Isolde“ aus der Bayerischen Staatsoper vor. Schon Stunden vor Beginn des Spiels machen sich Opernstars vor Publikum darüber Gedanken, welches Tempo der Dirigent Kirill Petrenko nehmen könnte. Oder ob der Tenor Jonas Kaufmann die Kondition hat für diese höllische Partie. Wobei die Bayreuther Expertin Katharina Wagner schwärmt: „Kaufmann ist Kaufmann“.

Man könnte die Aufführung wahlweise mit eingeblendeten Kommentaren eines Kritikers genießen. Und Minuten nach dem Abfiff, dem verklingenden Liebestod, gibt Isolde, also Anja Harteros, ein Interview hinter dem Vorhang und sagt, wie sie sich fühlt.

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Erstellt:
22.06.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 06sec
zuletzt aktualisiert: 22.06.2021, 06:00 Uhr

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