Tübingen · Bildung

Fachkräftemangel in der Region: Die Chancen bei fehlendem Schulabschluss

Für Schüler ohne Abschluss ist es offenbar immer schwieriger, einen Ausbildungsplatz zu finden. In der Region stimmt das nicht ganz.

27.02.2023

Von Christine Laudenbach

Die Ausbildung zum Zimmermann ist bei Abiturienten seit Jahren sehr beliebt. Bild: HWK Reutlingen

Die Ausbildung zum Zimmermann ist bei Abiturienten seit Jahren sehr beliebt. Bild: HWK Reutlingen

Wer sich in der Metzgerei Egeler in Ammerbuch nach Nachwuchssorgen erkundigt, bekommt zur Antwort: Kommt darauf an. Momentan lernen drei junge Männer Metzger, und mit diesem Stand sei man „sehr zufrieden“, sagt Lena Feßler. Im Verkauf aber sieht es schlecht aus. Fachverkäuferin im Lebensmittelhandwerk will heutzutage offenbar niemand mehr werden. Für beide Ausbildungsberufe wirbt Feßler bei Ausbildungsmessen. Auch mit der Handwerkskammer sei man in Kontakt: für den Verkauf seit Jahren vergebens. Dabei sei es „ein sehr kreativer Beruf“ mit Weiterbildungsmöglichkeiten. Und: „Man macht jeden Tag Menschen glücklich“, mit qualitativ hochwertigen Produkten – auch vegetarischen.

Für die Ausbildung zum Metzger entscheiden sich größtenteils junge Menschen mit einfachem Schulabschluss. „Das war fast schon immer so“, sagt Feßler. Ein Azubi aus der aktuellen Riege hat Mittlere Reife, Abiturienten „hatten wir auch schon“, sagt Feßler, hauptsächlich im Dualen Studium „Food Management“. Karl-Heinz Goller von der Handwerkskammer Reutlingen wundert das nicht: Für Abiturienten sind vor allem Berufe attraktiv, in die ein Duales Studium führt. Mittlerweile öffneten sich dafür auch Branchen, in denen dies früher undenkbar schien, wie beispielsweise der Bau. Beton- und Stahlbauer können jetzt den Studiengang Bauingenieurswesen in Kombination mit der Praxis wählen.

In Handwerksberufen ist der Abiturienten-Anteil „in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“, schreibt die Kammer, in acht Jahren um 50 Prozent. Dem Leiter der Ausbildungsabteilung zufolge zieht sich dieser Trend „querbeet durchs Handwerk“, sprich durch alle Berufe. Bei den Zimmermännern sei die Quote „schon immer“ hoch gewesen – die Ausbildung kann auch als Praxissemester für ein Architekturstudium genutzt werden. Auch Studienabbrecher finden laut Goller immer wieder den Weg in einen Handwerksberuf.

2022 haben sich im Bezirk der Handwerkskammer (Landkreise Reutlingen, Tübingen, Freudenstadt, Sigmaringen und Zollernalb) 1767 junge Frauen und Männer für eine handwerkliche Ausbildung entschieden – das entspricht einem Plus von 1,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 17 Prozent der Neuverträge unterschrieben Abiturienten oder Fachhochschüler. 2014 waren dies noch 11,3 Prozent.

In Industrie und Handel ist der Trend noch deutlicher. Von den rund 2000 neuen Auszubildenden der Region Neckar-Alb hatten im vergangenen Jahr 35 Prozent zuvor das Abitur oder die Fachhochschulreife bestanden. 2010 lag der Anteil noch bei 25 Prozent. Fazit der IHK Reutlingen: „Es kommen vermehrt Jugendliche mit Studienberechtigung am Ausbildungsmarkt an.“ Einer im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten Studie zufolge liegt der Anteil 2021 bundesweit bei knapp 50 Prozent. Der „Spiegel“ fürchtet Überakademisierung. 2011 waren es noch 35 Prozent gewesen. Die Jugendlichen wollen Fachinformatikerin und Bauzeichner werden, Chemielaborantin, Mechatroniker oder Bankkauffrau.

Die Handwerkskammer erklärt diese Tendenz mit mehreren Gründen: Zum einen wechselten nach dem Wegfall der Grundschulempfehlung immer mehr Schülerinnen und Schüler aufs Gymnasium, immer mehr machten in der Folge Abitur oder Fachhochschulreife. Zum anderen stellten die Ausbildungsbetriebe immer höhere Anforderungen.

Was bedeutet dies im Umkehrschluss für potenzielle Azubis mit mittlerem, einfachem oder gar keinem Schulabschluss? Für Jugendliche, die Straßenbauer, Verkäuferin, Lagerist oder Elektronikerin werden wollen? Laut Bertelsmann-Studie spitze sich für Menschen mit einfachem oder ohne Abschluss die ohnehin schwierige Situation weiter zu. Die Antwort aus der Region lautet auch hier: Kommt darauf an. In Industrie und Handel können heute mehr Jugendliche ohne Abschluss unterkommen. Der Anteil hat sich in zwölf Jahren von 2 auf 4 Prozent verdoppelt und ist laut IHK „ein Zeichen, dass auch sehr schwache Jugendliche Chancen“ bekommen. Der Anteil derer mit mittlerem Abschluss ist in diesen Berufen rückläufig. Für die IHK ein Hinweis dafür, dass Realschüler vermehrt eine weiterführende Schule besuchen.

Im Handwerk hat auch in der Region die Zahl der Hauptschüler „deutlich abgenommen“, in acht Jahren um 30 Prozent, so die Kammer. Deutlich mehr Jugendliche mit Mittlerer Reife fanden dafür den Weg dorthin. Und: Der Anteil der neuen Azubis ohne Schulabschluss ist gestiegen, von 2,3 Prozent in 2014 auf aktuell 6 Prozent. Dieser Zuwachs könne mit zugewanderten Menschen erklärt werden, die ohne Bildungsabschluss nach Deutschland gekommen sind, oder deren Abschlüsse nicht anerkannt werden. Aber nicht nur, sagt Goller. Auch Jugendliche, die schulmüde sind, gehörten zu dieser Gruppe, die einfach keine Lust mehr auf Theorie haben und in die Praxis wollen.

Die große Schnittmenge von Industrie, Handel und Handwerk der Region ist: Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels wird in allen Bereichen händeringend Nachwuchs gesucht. Die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe sei groß. Die Stellenbörse der Handwerkskammer hatte Mitte Februar 1220 Lehrstellen im Angebot. Auch die IHK meldet: „Ausbildungsstellen sind in fast allen Berufen noch zu haben.“ Der Medien- und Marketingbereich sei gut besetzt. In „Mangelberufen“ in der Textilbranche, bei Verkehr und Transport, Logistik und Gastro hingegen gebe es genügend freie Plätze.

Der Metzgerei Egeler geht es da nicht viel anders. Auch bei der Suche nach ausgebildeten Kollegen kommt es darauf an, für welchen Bereich – allerdings gegenläufig zum Ausbildungsbereich: Ausgelernte Metzger zu finden „ist echt schwer“, sagt sie, Fleischereiverkäuferinnen hingegen gar nicht.

Metall- und Elektro-Betriebe liegen vorne

Im Bereich der Handwerkskammer Reutlingen werden mit 1976 Auszubildenden derzeit in den Metall- und Elektrobetrieben die meisten jungen Menschen ausgebildet. Es folgen die Bau- und Ausbaubetriebe mit 923 Azubis und die Betriebe der Gesundheits- und Körperpflege mit 387 Auszubildenden. 252 Lehrlinge verzeichnet das Holzgewerbe, das Nahrungsmittelhandwerk beschäftigt 187 Auszubildende. Die Betriebe der Gruppe Glas, Papier, Keramik bilden 91 künftige Fachkräfte aus, die Gruppe Bekleidung, Textil, Leder 24. Im kaufmännischen Bereich sowie in Reha-Berufen werden 472 junge Menschen ausgebildet.

Zum Artikel

Erstellt:
27.02.2023, 19:27 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 48sec
zuletzt aktualisiert: 27.02.2023, 19:27 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Wirtschaft: Macher, Moneten, Mittelstand
Branchen, Business und Personen: Sie interessieren sich für Themen aus der regionalen Wirtschaft? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Macher, Moneten, Mittelstand!