Stuttgart

Eine Stadt arbeitet am Imagewandel

Baumpflanzungen auf einem Vorzeigebau, Schienenlieferungen für den Tiefbahnhof, eine Hotelgründung im Herzen der City: Ein Streifzug durch eine Stadt zwischen Aufbruch und Abbruch.

05.11.2021

Von Roland Muschel

Mit einem Kran werden Bäume für einen Mini-Mischwald auf das Gebäudedach der Calwer Passage gehievt. Foto: Leif Piechowski/Lichtgut

Mit einem Kran werden Bäume für einen Mini-Mischwald auf das Gebäudedach der Calwer Passage gehievt. Foto: Leif Piechowski/Lichtgut

Stuttgart. Petra Bräuninger öffnet die Schiebetür zur Dachterrasse ihres Hotels. Von hier oben kann man den Blick schweifen lassen über das alte, neue Stuttgart: Über Stiftskirche und Villa Reitzenstein, über Rathaus und Fernsehturm – und zu späterer Stunde auch über das rege Nachtleben rund um den Hans-im-Glück-Brunnen oder die Flaneure vor der eigenen Hoteltür.

Es ist eine Stadt, deren Wandel Petra Bräuninger ein wenig mitgestalten will: Nach vier Jahren Bauzeit hat sie mit ihrem Mann, einem Immobilienentwickler, und ihrer Tochter im September das Design-Hotel Emilu eröffnet. Dafür hat die Familie aus einem 1960er-Jahre Verwaltungsgebäude ein architektonisches Kleinod mit viel Liebe zum Detail geschaffen, die Bar im Erdgeschoss wird von den Machern des gegenüberliegenden Szenecafes Tatti betrieben. „Wir wollen uns ins Quartier integrieren“, sagt Petra Bräuninger.

Das inhabergeführte Hotel in zentraler Lage nahe dem Rathaus ist ein Statement für eine lebendige Innenstadt – und gegen den Trend, die Citys Ketten und Konzernen und damit der Verödung zu überlassen. Zielpublikum sind Geschäftsreisende, aber auch anspruchsvolle Städtetouristen. Am Anfang, erzählt Bräuninger, seien sogar viele Stuttgarter gekommen, um hier ein, zwei Nächte zu verbringen.

Viele Stuttgarter entdecken ihre Stadt gerade neu. Die Schatten, die negative Schlagzeilen – vom „Schwarzen Donnerstag“ im Jahr 2010 über die Krawallnacht im Sommer 2020 bis zu den Querdenker-Demos in jüngerer Vergangenheit – über die 610 000-Einwohner-Metropole gelegt haben, werden kürzer, je länger die Ereignisse zurückliegen. Und je mehr sich die Vielzahl der Baustellen lichtet, umso mehr Neues kommt zum Vorschein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Schwabenmetropole Funktionalität Trumpf, die „Stuttgarter Schule“ mit ihrer nüchternen Formsprache architektonisch dominant, nicht das heimelig-historische Ambiente von Touristenhochburgen wie Heidelberg oder Tübingen. Das ist für die Tourismusbranche ein Nachteil, bietet aber auch Chancen.

Armin Dellnitz hat die Baustellen im Blick, er sorgt selbst gerade für eine, vor allem aber die Möglichkeiten, die sich damit eröffnen. „Wir sind in einem Veränderungsprozess, der dafür sorgen wird, dass Gebäude entstehen, die einer modernen Innenstadt gerecht werden“, sagt der Geschäftsführer von Stuttgart Marketing. Nur wenige Meter entfernt wird der Marktplatz saniert; hier soll auf Dellnitz‘ Betreiben hin bis 2023 auch ein „Haus des Tourismus“ entstehen, im Erdgeschoss eine Art Erlebnispark, auf dem Dach Begrünung und Gastronomie. Stuttgarts oberster Markenbotschafter spricht von einem „Glücksfall“, der Marktplatz, der bislang außer an Markttagen ein Schattendasein geführt hat, werde zum „gefühlten und urbanen Mittelpunkt“ der Stadt werden.

Vorfreude auf „Mega-Events“

Im April 2022 soll die erste Stele für ein digitales Fußgängersystem mit Hinweisen stehen, die Besucher informiert, wo was los und für welche der wöchentlich mehr als 200 Veranstaltungen in der Innenstadt noch Tickets erhältlich sind. Die Hardware Architektur und die Software Aufenthaltsqualität sollen Stuttgart gemeinsam attraktiver machen. Dellnitz‘ Blick ist bereits ein paar Jahre in die Zukunft gerichtet: 2024 – Fußball-EM („Da machen wir ein Mega-Event draus“), 2025 – Fertigstellung Stuttgart 21, 2027 - Internationale Bauausstellung. „Wenn wir das nicht nutzen als Stadt, sind wir selber schuld.“

Herbert Medek biegt gerade in die Calwer Straße ein; der Ausbilder der Stuttgarter Stadtführer spaziert mit seinen Gästen gerne durch die Straßen und die Historie der Stadt. „Eine Stadt verändert sich fortlaufend, sie ist nie fertig“, sagt der Stadthistoriker, der lange Jahre in verantwortlicher Position im Stuttgarter Planungsamt gearbeitet hat und dabei in alle derzeit relevanten Bauprojekte involviert war. Die Calwer Straße ist eine der ersten Straßen in der Innenstadt, die für Fußgänger saniert worden ist. Hier stehen Häuser aus mehreren Jahrhunderten nebeneinander, mit Zeugnissen aus Mittelalter und Gründerzeit, aus Barock und Biedermeier.

„Eine Stadt verändert sich fortlaufend“: Herbert Medek Foto: Roland Muschel

„Eine Stadt verändert sich fortlaufend“: Herbert Medek Foto: Roland Muschel

Die historische Kulisse, die Ende der 1970er-Jahre beinahe für einen Versicherungskomplex abgerissen worden wäre, ist heute Bühne für junge Cafés, internationale Restaurants, Weinbars und inhabergeführte Boutiquen. Die jüngste Neueröffnung ist ein repräsentatives Geschäft von Kessler Sekt, Deutschlands ältester Sektkellerei mit Stammsitz in Esslingen. Die Stadt ist historisch mit Stuttgart eigentlich in inniger Abneigung verbunden. Zum Rotebühlplatz hin, dem geografischen Mittelpunkt der Stadt, entsteht gerade die runderneuerte Calwer Passage, die in den 1970er Jahren nach dem Vorbild der Mailänder Passage Vittorio Emmanuele entstanden war. Die Fassade des Leuchtturmprojekts für ein verbessertes Stadtbild und -klima soll im Frühjahr begrünt werden, die Baumpflanzungen für einen Mini-Mischwald auf dem Dach über dem sechsten Obergeschoss haben bereits begonnen. Der Entwurf stammt von Christoph Ingenhoven, dessen einige hundert Meter entfernter Tiefbahnhof endlich Gestalt annimmt.

Jörg Hamann steht dort, wo die ersten von insgesamt 28 Kelchstützen stehen und Ende 2025 die Züge aus dem neuen unterirdischen Bahnhof fahren sollen. „Stuttgart hat mit dem Fernsehturm ein Wahrzeichen, ein weiteres wird der Bahnhof sein“, sagt Hamann, der acht Jahre lang die Lokalredaktion der Stuttgarter Nachrichten geleitet hat und seit sechs Jahren die Kommunikation für das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm verantwortet. Jüngst sind die ersten Schienen für die Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart geliefert worden, 2022 wird die Augsburger Firma Seele beginnen, die im Durchmesser bis zu 21 Meter großen Lichtaugen zu bauen, die die unterirdische Bahnhofshalle mit natürlichem Licht und Luft versorgen sollen.

Lange hatte der Streit um Für und Wider von Stuttgart 21 die Schlagzeilen geprägt; je mehr das Projekt Gestalt annimmt, desto mehr Aufmerksamkeit gilt dem sichtbaren Wandel. Die Baustellenführungen sind in diesem Jahr so gut besucht wie nie. „Dieser Bahnhof“, sagt Hamann, „symbolisiert den Wandel der Stadt.“ Auch mit den Möglichkeiten, die das Rosensteinquartier mit 85 Hektar Fläche für den Städtebau bietet.

Anja Krämer geht durch einen schmalen Gang, 60 Zentimeter eng. Er war einst der Grund dafür, dass das Haus, zu dem der Gang gehört, schwer zu vermieten war. Heute ist das 1927 von Le Corbusier und Pierre Jeanneret im Rahmen einer Werkbund-Ausstellung zum neuen Wohnen geschaffene Gebäude Weltkulturerbe. Es ist Teil der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, eines der bedeutendsten baulichen Zeugnisse der Moderne. Krämer, eine Kunsthistorikerin, leitet das Museum der Weißenhofsiedlung. „Die Ausstellung 1927 versammelte unterschiedliche Statements, wie man modern leben soll“, sagt sie. Der Anspruch war nicht, eine repräsentative Architektur zu schaffen, sondern innovative Wohnideen zu präsentieren. Daran will die Region Stuttgart mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 anknüpfen.

Der Wandel Stuttgarts, mal mit historischen Anleihen, mal als Statement einer neuen Zeit, wird also weitergehen.

Weniger Übernachtungen

Die Pandemie hat zu einem dramatischen Einbruch der Zahl der Übernachtungen in der Region Stuttgart geführt. Konnten die Touristiker im Vor-Corona-Jahr 2019 für die Region noch 9,27 Millionen Übernachtungen ausweisen, waren es 2020 nur noch 4,37 Millionen. Für das laufende Jahr rechnet Stuttgart Marketing bestenfalls mit minimal höheren Übernachtungszahlen als 2020. Geschäftsreisende machten bislang 70 Prozent der Übernachtungen aus, hier könnten Digitalisierung und Sparzwänge den Markt dauerhaft verändern.

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Erstellt:
05.11.2021, 06:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 28sec
zuletzt aktualisiert: 05.11.2021, 06:00 Uhr

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