Tübingen · Venedig-Winner
Menschenfresser als Metapher
Das Horror-Drama „Bones and All“ bietet eine Lovestory unter Außenseitern und einen ungewöhnlichen Mix aus Roadmovie und Coming-of-Age-Film.
Er gilt als angesagtes Schmacht- und Kreischobjekt von Hollywood, sogar auf das Cover der „Vogue“ hat es Timothée Chalamet als bislang einziger Mann in 106 Jahren unlängst geschafft: In „Call Me by Your Name“ genügte dem Shooting-Star einst noch ein Pfirsich zum Lustgewinn. Mittlerweile braucht er Menschenfleisch. Wiederum steht der 26-Jährige für Italo-Filmer Luca Guadagnino vor der Kamera. Statt schwuler Lovestory geht es diesmal um die Liebe zweier Außenseiter, die ihr Appetit auf Menschenfleisch verbindet. „Eater“ nennen sich jene heimlichen Kannibalen, die sich auf große Distanz gegenseitig am Geruch erkennen. Teenager Maren (Taylor Russell) ist noch nicht so ganz auf den Geschmack gekommen, die aufkommende Fleischeslust macht sie unsicher. Im bizarren Sully (Mark Rylance) findet sie einen erfahrenen Mentor, im hübschen Lee (Timothée Chalamet) danach den perfekten Liebeskandidaten. Gemeinsam macht sich das verliebte Duo auf die Suche nach Marens verschollener Mutter. Leichen pflastern ihren Weg.
Um trauernde Angehörige zu vermeiden, stellt Lee sein Menü spontan auf alleinstehende Schwule um. Dem Quickie im nächtlichen Maisfeld folgt das große Fressen. Der Junge vom Jahrmarkt wird gemeinsam mit der neuen Freundin verspeist. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, der ganz große Kannibalen-Kick kommt freilich erst, wenn der Titel befolgt wird und das Opfer mit Haut und Haar sowie den Knochen verzehrt wird. Die ungewöhnliche Mischung aus Coming-of-Age, Lovestory, Roadmovie und Horror sorgt für Staunen und Gänsehaut gleichermaßen. Die visuell famose Tour dieser Fine Young Cannibals bedient die unterschiedlichsten Bedürfnisse: Cine-Streber können die Metaphorik für US-Kapitalismus, Drogensucht und Identitätssuche enträtseln. Oder die großartigen Landschaftsbilder des Mittleren Westens mit jenen von William Eggleston vergleichen. Zarten Gemütern dienen die recht blutigen Szenen zur Mutprobe oder als Dating-Film mit Kuschelgarantie.
Timothée-Fans werden mit charismatischen Blicken und viel freiem (wenngleich oft blutverschmiertem!) Oberkörper des Hollywood-Darlings bedient. Taylor Russell, in Venedig mit dem Schauspiel-Preis gekürt, hat den schönen Timo bereits zum Fressen gern. Die Oscar-Juroren dürften folgen. (Ab 16; Arsenal)