Diskussionen über Vorstoß des Bundesgesundheitsministers

Kein Druck zur Organspende

Tübinger Mediziner und Abgeordnete nehmen Stellung zum Vorstoß des Bundesgesundheitsministers für eine Widerspruchslösung.

08.09.2018

Von Volker Rekittke

Hilft die von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn propagierte Widerspruchslösung dabei, die Zahl der Organspenden in Deutschland deutlich zu steigern? Darüber wird derzeit kontrovers diskutiert. Bild: DSO / Johannes Rey

Hilft die von CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn propagierte Widerspruchslösung dabei, die Zahl der Organspenden in Deutschland deutlich zu steigern? Darüber wird derzeit kontrovers diskutiert. Bild: DSO / Johannes Rey

Widersprechen oder explizit zustimmen? Prof. Silvio Nadalin hält das beim Thema Organspende für die falsche Fragestellung. Der Leiter des Transplantationszentrums am Universitätsklinikum Tübingen (UKT) ist überzeugt: „Es gibt genug potenzielle Organspender in Deutschland, die Leute sind bereit zu spenden – mit oder ohne Ausweis.“ Menschen dürften aber nicht unter Druck gesetzt werden, das bewirke eher das Gegenteil. Denn es gehe um Überzeugungsarbeit, um die Auseinandersetzung mit einem existenziellen Thema. „Die Menschen sollten miteinander über Tod und Organspende sprechen“, wünscht sich Nadalin. Er sieht das Hauptproblem ohnehin in den Krankenhäusern selbst – und bei der Politik.

In vielen Kliniken würden infrage kommende Spender zu selten identifiziert und gemeldet (siehe Infobox). Immer wieder würden auch Angehörige eine Organentnahme verweigern. Die Gespräche mit ihnen würden von Seiten des Fachpersonals häufig nicht optimal geführt. „Dazu braucht man eine intensive Ausbildung.“ Genauso wie für die Hirntod-Diagnostik oder die richtige Vorbereitung von sterbenden Patienten für die Organspende. „Das alles kostet Zeit und Geld“, sagt Nadalin mit Blick nach Berlin.

2017 gab es am UKT neun Organspender, die jeweils mehrere Organe spendeten, 2016 waren es sechs, 2015 sieben. Alle waren Patient(inn)en am Uniklinikum. „Das heißt nicht, dass diese Organe auch in Tübingen transplantiert wurden“, sagt Nadalin. Denn die Verteilung erfolgt über die gemeinnützige Stiftung Eurotransplant. Sie ist zuständig für die Vermittlung aller Organe, die in Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Slowenien, Kroatien und Ungarn Verstorbenen zum Zwecke der Transplantation entnommen werden.

Seit 2013 werden am UKT etwa hundert Transplantationen pro Jahr durchgeführt, vor allem von Niere und Leber. Die Zahlen sind relativ konstant. Mehr als 200 Patient(inn)en stehen laut Nadalin derzeit auf der Warteliste des Uniklinikums für eine Organtransplantation, darunter auch ungefähr zehn Kinder.

Die Tübinger Bundestagsabgeordnete und Staatsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU) hat ihre Spendenbereitschaft in ihrem Organspendeausweis dokumentiert. Sie begrüßt die Diskussion über die Frage, wie die Spendenbereitschaft von Organen in der Bevölkerung erhöht und die Abläufe in den Kliniken verbessert werden können. Doch einer Widerspruchslösung steht sie kritisch gegenüber. Warum? „In einer so persönlichen Frage dürfen wir meines Erachtens Entscheidungen nicht gesetzlich voraussetzen“, so die langjährige parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium: „Auch die Tatsache, dass Menschen sich noch nicht entschieden haben, gleichzusetzen mit einer Zustimmung, halte ich für fragwürdig.“

Für Widmann-Mauz ist „Selbstbestimmung ein zu wichtiges Rechtsgut in unserer Verfassung. Jedweder Zwang an dieser Stelle ist dem berechtigten Anliegen nicht förderlich.“ Vertrauen, Information und Aufklärung seien enorm wichtig – und genau das sei die Aufgabe von Politik und Gesellschaft: „Wir müssen den Menschen mehr Anstöße geben, mehr Gelegenheiten, sich mit dem Thema in einem positiven, vertrauensvollen Umfeld zu befassen.“

Und die von Transplantationsmediziner Nadalin geforderten Verbesserungen in den Kliniken? Widmann-Mauz unterstützt die organisatorischen Maßnahmen und Regelungen zur Verbesserung der Finanzierung, wie sie im Entwurf für ein Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO) enthalten sind. Drei Beispiele: Transplantationsbeauftragte sollen im Klinikalltag mehr Zeit bekommen, um ihre Aufgabe auch wirklich erfüllen zu können. Und die Pauschalen für Organentnahmen sollen angehoben werden, damit der Gesamtaufwand der Kliniken für die Organspende angemessen vergütet wird. Auch der Austausch zwischen den Organempfängern und den Angehörigen der Organspender in Form anonymisierter Schreiben soll verbindlich geregelt werden.

Für die CDU-Abgeordnete ist ein Wechsel zur Widerspruchslösung auch deshalb keine Garantie für mehr Organspenden: In Schweden, wo lange die Zustimmungslösung galt, sei nach dem Systemwechsel keine Steigerung der Spenderzahlen erreicht worden, so Widmann-Mauz.

„Wenn man bedenkt, dass die Widerspruchsregelung in vielen europäischen Ländern seit Jahrzehnten praktiziert wird und mir von dort keine Skandale bekannt sind, dann ist das schon mal ein gutes Argument“, gibt Urban Wiesing zu bedenken. Allerdings sieht auch der Direktor des Tübinger Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin die Hauptprobleme an anderer Stelle: „Der Mangel an Spenden hängt nur geringfügig damit zusammen, dass wir in Deutschland keine Widerspruchsregelung haben.“

Womit dann? „Es gibt zu viele kleinere Kliniken, die keine Expertise und auch kein Interesse an Organspenden haben“, sagt Wiesing und rechnet vor: Wäre das deutsche Gesundheitswesen ähnlich organisiert wie das dänische, gäbe es hierzulande statt rund 1900 nur 330 Kliniken, die allerdings allesamt in allen relevanten Bereichen sehr gut geschultes Fachpersonal vorhalten würden – auch im Transplantationswesen. Deshalb sollte man laut Wiesing hier mit Veränderungen beginnen: „Die Medizin muss ihre Hausaufgaben machen.“

Und die Angst mancher Menschen vor Missbrauch und Intransparenz? Wiesing: „Das System ist deutlich sicherer geworden seit dem Transplantationsskandal 2012 wegen manipulierter Wartelisten.“

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisiert Spahns Vorstoß. Dem Transplantationssystem werde „ein Bärendienst“ erwiesen: „Eine solche Pflicht wird die Vertrauenskrise weiter verstärken.“ Und: „Kommt die Widerspruchslösung, kann von Organspende keine Rede mehr sein, denn Spenden sind immer freiwillig.“ Letzteres sieht auch der Tübinger Medizinethiker Urban Wiesing so: „Das ist dann keine Organspende mehr, sondern eine Organabgabe.“

Auch die Tübinger Abgeordnete Heike Hänsel (Die Linke) lehnt die Widerspruchslösung ab. Zwar sei die Debatte über Organspenden überfällig. „Aber ich hätte mir gewünscht, es wird endlich über die Ursachen von Missbrauch von Organspenden und Fehlanreize gesprochen – und über die Verfasstheit des Gesundheitssystems insgesamt.“

Für Hänsel gibt es zudem keinen Automatismus zwischen Widerspruchslösung und steigenden Spenderzahlen. Während in einigen Ländern mit Widerspruchslösung, wie Belgien, die Spenderrate anstieg, habe sich die Rate in Schweden und Singapur nicht verändert, in Brasilien, Dänemark und Lettland sei sie sogar gesunken.

Kieler Forscher: Das Problem liegt in den Kliniken

Das Deutsche Ärzteblatt berichtete im Juli, dass Organspenden von Verstorbenen seit 2010 um 30 Prozent zurückgingen. Ursache dafür seien jedoch nicht etwa weniger potenzielle Organspender vor allem nach dem Transplantationsskandal von 2012. Die Zahl der Spender habe zwischen 2010 und 2015 sogar um fast 14 Prozent zugenommen. Forscher um Kevin Schulte und Thorsten Feldkamp des Universitätsklinikums Schleswig-Holsteins in Kiel machen vielmehr die Entnahmekrankenhäuser verantwortlich, weil diese Spender zu selten erkennen und melden. Würden alle Kliniken so arbeiten wie im Rahmen eines Modellprojekts der Deutschen Stiftung Organspende (DSO), hätte es in Deutschland im Jahr 2015 statt 877 etwa 2780 Organspender gegeben, rechnete das Team der Uniklinik Kiel vor.

Zum Artikel

Erstellt:
08.09.2018, 01:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 12sec
zuletzt aktualisiert: 08.09.2018, 01:00 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen

Sie möchten diesen Inhalt nutzen? Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Lizenzierung.

Push aufs Handy

Die wichtigsten Nachrichten direkt aufs Smartphone: Installieren Sie die Tagblatt-App für iOS oder für Android und erhalten Sie Push-Meldungen über die wichtigsten Ereignisse und interessantesten Themen aus der Region Tübingen.

Newsletter


In Ihrem Benutzerprofil können Sie Ihre abonnierten Newsletter verwalten. Dazu müssen Sie jedoch registriert und angemeldet sein. Für alle Tagblatt-Newsletter können Sie sich aber bei tagblatt.de/newsletter auch ohne Registrierung anmelden.
Das Tagblatt in den Sozialen Netzen
    
Faceboook      Instagram      Twitter      Facebook Sport
Newsletter Prost Mahlzeit
Sie interessieren sich für gutes und gesundes Essen und Trinken in den Regionen Neckar-Alb und Nordschwarzwald? Sie wollen immer über regionale Gastronomie und lokale Produzenten informiert sein? Dann bestellen Sie unseren Newsletter Prost Mahlzeit!