Corona
SWP-Leitartikel: Wichtiges Warnsignal
Tschüss Inzidenz, hallo tja, was denn eigentlich?
Der Bundestag berät heute darüber, den Wert von 50 positiv Getesteten pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen nicht mehr als zentrales Warnsignal im Kampf gegen Corona zu betrachten. Das Parlament kommt damit einer Forderung nach, die seit Monaten im Raum steht. Eine breite Anzahl von Experten hatte bereits um Ostern erklärt, dass die Zahl der Infektionen immer irrelevanter würde, je höher die Zahl der vollständig geimpften Menschen steige.
Der Schritt ist also überfällig. Schon immer war der 50er-Wert aus der Luft gegriffen. Angeblich sei es den Gesundheitsämtern nicht mehr möglich, jede Infektion nachzuvollziehen, wenn diese Zahl überschritten werde. Später stellte sich heraus, dass den Gesundheitsämtern das auch bei Inzidenzen von zehn oder niedriger nur selten gelingt – ganz einfach, weil die Corona-Erkrankten häufig keine Idee hatten, wo sie sich angesteckt haben könnten. Noch immer basieren die Aussagen über die sogenannten Hotspots auf mehr oder weniger gut begründeten Vermutungen, nicht aber auf gesicherten Erkenntnissen durch die Gesundheitsämter.
Nein, die Zahl 50 war von Anfang an ein politischer Wert. Er war wichtig als Verhandlungsgrundlage für die Ministerpräsidenten-Konferenz. Der Wert war sozusagen das Fundament, auf dem das „Team Vorsicht“ mit dem „Team Lockern“ überhaupt ins Gespräch kommen konnte. Alle akzeptierten, ab hier muss etwas geschehen. Die Frage war dann nur noch „was“ und nicht mehr „ob“. Eine wissenschaftliche Bedeutung ging mit der 50 nie einher.
Das heißt nicht, dass die Inzidenz nun völlig ausgedient hätte. Natürlich lässt sich an ihrem Verlauf sehr gut erkennen, wie dynamisch sich das Virus ausbreitet. Sie bleibt also ein Frühwarnindikator. Wann genau aber die Gefahr droht, das Gesundheitssystem dauerhaft zu überlasten, bleibt vorerst offen. Klar ist, Corona wird nicht mehr weggehen, es ist wahrscheinlich schon jetzt endemisch. Die Gruppe der potenziellen Opfer hat sich deutlich reduziert. Die am meisten gefährdeten Gruppen und mit ihnen etwa die Hälfte der Deutschen sind inzwischen durch die Impfung weitgehend geschützt.
Deshalb wird es im Herbst vor allem die Ungeimpften treffen und bedrohen. Es ist für diese Personengruppe wichtig, die Inzidenz auch weiterhin deutlich auszuweisen, um sie zu größerer Vorsicht anzuhalten. Denn auch das ist klar, es gibt im Gegensatz zur zweiten und dritten Welle keine Mithaftung des Rests der Gesellschaft mehr, etwa in Form eines allgemein gültigen Lockdowns. Schließlich ist inzwischen mehr als genügend Impfstoff für jeden vorhanden. Wer sich schützen möchte, kann das jederzeit tun. Wer die Impfung nicht will, sollte dazu auch nicht gezwungen werden. Das dadurch erhöhte Risiko für die eigene Gesundheit muss man dann aber mit sich selbst ausmachen.
Womöglich sorgt die vierte Welle ja nicht nur für höhere Inzidenzen, sondern auch für eine höhere Impfbereitschaft.